Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)
Musikverbot am See: Konstanzer müssen künftig leise feiern
SIPPLINGEN - Die Straße direkt am Bodensee ist gegen zehn Uhr an diesem Samstag noch so befahrbar, dass die Sonnen- und Wasserhungrigen ganz gut durchkommen. Der See trägt heute sein tiefstes Blau, der Himmel sein himmlischstes. Und die Sonne legt an diesem Vormittag über alles ein glänzendes Licht, das auf der Wasseroberfläche im Rhythmus der kleinen Wellen tanzt. Jetzt kommt am Straßenrand ein gelbes Schild in Sichtweite, auf dem steht „Sipplingen“. Ein paar Meter weiter gibt es da noch ein Schild, und darauf ist „Erholungsort“zu lesen. Also etwas, an dem sich Menschen einfinden, um eher in ruhiger Gangart zu sich selbst zu finden und sich – im besten aller möglichen Fälle – also zu erholen.
Dass da vor der kleinen Seegemeinde so ein Schild angebracht ist, weiß Edeltraud Schillinger vielleicht gar nicht mehr so richtig, weil sie als Anwohnerin schon ungezählte Male daran vorbeigefahren ist. Da übersieht man die Details, gerade wenn die Realität des alsbald in allen Nebenstraßen bedrohlich stockenden Verkehrs der Erholung grob zuwiderläuft. Jedenfalls kneift Frau Schillinger die Augen zu Schlitzen zusammen, wenn sie daran denkt, was in dem kleinen Ort so los ist an einem sonnigen Sommersamstag. Sprichwörtlich vor ihrer etwas höher über Sipplingen gelegenen Haustür schlängelt sich so eine Art Drei-Länder-Blechkolonne am Friedhof vorbei. „Die Parkplätze vor dem Friedhof sind ja eigentlich für die Friedhofsbesucher gedacht“, stellt die Dame unmissverständlich klar. Die Autos, die da stehen, kommen aber aus Tuttlingen, Tübingen, Aalen, Darmstadt, Frankfurt und Konstanz. Eher unwahrscheinlich, dass diese Autos mit Trauernden besetzt waren. Der Friedhof jedenfalls ist gegen 11
Uhr leer, was Straßen und vor allem der Uferstreifen mit Liegewiesen nicht von sich behaupten können. „Und jetzt noch der Streit zwischen Landratsamt und Bürgermeister“, sagt Edeltraud Schillinger und schüttelt den Kopf.
Wäre der Landrat Lothar Wölfle ein Geistlicher und hieße Don Camillo, dann wäre Sipplingens Bürgermeister so etwas wie sein Gegenspieler Peppone. Warum? Die Geschichte ist schnell erzählt: Weil Bürgermeister Oliver Gortat fand, dass wegen der Menschenmassen an den großzügigen öffentlichen Uferbereichen – die zudem gratis zugänglich sind – die Corona-Regeln kaum eingehalten werden können, hat er die Sperrung der Ufer samt Liegewiesen zwischen 11 und 17 Uhr verfügt. Und zwar von jeweils Freitag bis Sonntag. Das Landratsamt hat diese Ufersperrung aber mit Hinweis darauf gekippt, dass Gortats Vorgehen einerseits juristisch nicht haltbar sei und andererseits „das lokale Infektionsgeschehen in Sipplingen“die Maßnahme nicht rechtfertige, wie es in einer Erklärung des Bodenseekreises heißt. Als Reaktion darauf spielt Gortat nun wiederum einen Trumpf – und sperrt den großen Parkplatz P 1 für Besucher, außerdem die Zufahrten zum Ortskern. Um den Tagesgästen die Lust an Sipplingen zu vergällen – und damit wiederum das Infektionsrisiko zu mindern.
„Richtig so!“, findet Roswitha Keller, eine Bekannte von Frau Schillinger und ebenfalls Anwohnerin. Auch wenn das nun bedeute, dass der Parksuchverkehr, der auch mit offenem P 1 schon erheblich sei, jetzt eben noch deutlich zunähme. Wie zur Bestätigung dampft gerade ein roter BMW mit brachial wummernden Bässen an den beiden Frauen vorbei, sodass sie sich kurz die Ohren zuhalten.
Inzwischen ist es 11.30 Uhr – und der eigentlich gesperrte Parkplatz P 1, der laut Beschilderung nur für Hafenanlieger mit Berechtigungsausweis geöffnet ist, wird von den Autofahrern trotz des Verbots lebhaft genutzt. Ein Mercedesfahrer mit Frankfurter Kennzeichen kommentiert den Hinweis auf das Verbot mit Schulterzucken und fragt: „Ja wo soll ich denn sonst parken?“Wie ihm geht es vielen. Des Bürgermeisters schärfste Waffe bleibt an diesem Tag jedenfalls stumpf – zumal die anderen beiden größeren Parkplätze P 2 und P 3 regulär offen sind. Das an diesem Tag herrschende Verkehrschaos sei die ganz normale Katastrophe Sipplingens wie an jedem anderen Feriensommertag auch, bestätigen nicht nur Roswitha Keller und Edeltraud Schillinger.
Doch das Vorgehen von Bürgermeister Oliver Gortat finden nicht alle Menschen in Sipplingen gut. So
Anwohnerin Edeltraud Schillinger etwa die Sonnenanbeter am Uferstreifen, die jetzt zur Mittagszeit immer mehr werden und sich dennoch nicht zu Infektionsherden ballen. Eine Familie mit zwei Kindern aus Villingen-Schwenningen zeigt kein Verständnis für die Sorge des Rathauschefs. Die Mutter sagt: „Gucken Sie sich doch um, das verteilt sich sehr gut. Es ist doch jede Menge Platz.“Tatsächlich halten die Menschen Abstand, nach Überfüllung sieht es nicht aus. Ganz anders das Bild bei Edeltraud Schillinger und Roswitha Keller. Gerade ist Daniela Zeiger aus Tuttlingen angekommen und hat sich einen Schattenparkplatz am Friedhof gesichert. Sie packt alles Nötige für einen Badetag zusammen und sagt: „Ich komme schon seit 42 Jahren nach Sipplingen – meine Kinder haben hier schwimmen gelernt.“Sie sehe die Gefahr durch Corona und habe Verständnis für die Anwohner, aber: „Einfach das Ufer sperren, das kann man doch nicht machen! Wenigstens die Stammgäste sollten kommen dürfen“, womit sie offenbar sich selbst meint.
Im Gespräch mit weiteren Anwohnern wird schnell klar: Sipplingen hat weniger ein Problem mit Virusinfektionen, sondern vielmehr eines mit Verkehr und Parkplätzen, die durch Corona und den Streit zwischen Landratsamt und Rathaus nur noch stärker hervortreten. Frau Schillinger berichtet, dass manche Auswärtigen weder davor zurückschreckten, sich in fremde Carports zu stellen, noch Tore oder Einfahrten zuzuparken. „Wir haben 2100 Einwohner – und manchmal 3000 Tagesgäste. Das ist einfach zu viel“, sagt die Anwohnerin. Und Daniela Zeiger behauptet sogar, es seien am vergangenen Wochenende 6000 gewesen.
Wie lange der Bürgermeister an der Sperrung des Parkplatzes P 1 sowie des Ortskerns festhalten will und ob er mit diesen Maßnahmen sein Ziel, die Infektionsgefahr zu verringern, erreicht sieht, ist an diesem Wochenende nicht zu erfahren. Oliver Gortat ist nicht vor Ort und hat bereits am Freitag auf Anfrage der „Schwäbischen Zeitung“ausrichten lassen, nicht erreichbar zu sein – auch nicht per Handy. In einer Mitteilung vom Freitag heißt es: „Die Weisung des Landratsamtes ist für mich nicht nachvollziehbar.“Er halte die Weisung des Landratsamtes für „absolut bedenklich“für die Gesundheit der Bevölkerung. „Ebenso verwundert der Hinweis des Landratsamtes, es gäbe nicht genügend Infektionszahlen, die diese Maßnahme rechtfertigen würden. Nach meinem Verständnis gilt es doch, gerade Derartiges zu verhindern.“
Das geteilte Stimmungsbild vor Ort lässt keinen eindeutigen Schluss zu, welcher nun der richtige Weg ist: der Versuch des Bürgermeisters, Sipplingen vor Massenansammlungen zu bewahren, wie sie nach seiner und der Aussage vieler Bürger zwangsläufig an heißen Tagen immer wieder vorkommen. Oder die Haltung des Landratsamts, das solche Eingriffe ablehnt, weil das Infektionsgeschehen sie nicht rechtfertige. Ein Anwohner gegenüber des Uferstreifens äußert den Verdacht, dass „das Landratsamt nicht dulden kann, wenn ein kleiner Bürgermeister für seine Gemeinde allein entscheidet.“Er wittert einen Machtkampf, bei dem es gar nicht um Corona, sondern um Kompetenzen geht.
Anwohnerin Edeltraud Schillinger hat jetzt erst mal genug von ihrem „Erholungsort“Sipplingen. Sie und ihr Mann haben die Sachen schon gepackt und fahren mit ihrem Campingmobil heute noch los. In den Schwarzwald soll es gehen, an den schönen Titisee.
KONSTANZ (kec) - Nicht nur Sipplingen hat ein Problem mit Besucherandrang am Bodensee. Auch andere Gemeinden geraten unter Druck. In Konstanz haben die Beschwerden von Anwohnern beim Herosé-Park am Seerhein derart massiv zugenommen, dass Oberbürgermeister Uli Burchardt (CDU) ein Alkoholverbot prüfen ließ. „Ich habe volles Verständnis für die Feiernden, dass sie aufgrund der nach wie vor bestehenden coronabedingten Schließungen von Clubs und Diskotheken an das See- und Rheinufer ausweichen“, so der OB in einer Pressemitteilung. „Die Situation für die öffentliche Sicherheit und Ordnung und für die Anwohner hat sich dadurch in einigen Gebieten mittlerweile aber so verschlechtert, dass wir handeln müssen.“Wenige Tage später kam die Absage. Eine rechtliche Grundlage gibt die Situation am Seerhein nicht her. Die kann nach Angaben der Stadt nur für sogenannte Brennpunkte erlassen werden. 50 Straftaten pro Jahr hätten dort registriert werden müssen. Tatsächlich lagen aber nur 15 Anzeigen vor. Dafür ist die Polizei 56-mal wegen Ruhestörung ausgerückt. Um die Situation zu entspannen, hat die Stadt eine zunächst für einen Monat geltende Polizeiverordnung zum Abspielen von Musik in der Nähe von Wohngebäuden erlassen. Seit Donnerstag darf zwischen 23 Uhr und 6 Uhr morgens Musik nur noch unverstärkt vom Handy abgespielt werden.
Die Polizei ist sowohl Freitag- als auch Samstagabend ausgerückt, um die Feiernden über Flugblätter und Gespräche an mehreren Uferabschnitten zu sensibilisieren, sagte ein Polizeisprecher der „Schwäbischen Zeitung“. „Die Leute hatten überwiegend Verständnis für die Maßnahme. Viele wussten auch schon Bescheid.“An beiden Abenden wurden dennoch sechs Personen angezeigt. Sie müssen mit einem Bußgeld rechnen. Außerdem wurden mehrere Verstärkerboxen kassiert. Die Polizei ist aber zuversichtlich, dass sich die Situation positiv entwickelt.
Bereits vor Corona gab es an der vor allem bei Jugendlichen und Studenten beliebten Konstanzer Uferzone Beschwerden. Die Stadt hat 2011 ein Glasverbot erlassen, welches ein Jahr später durch die Klage eines Jurastudenten vom Verwaltungsgericht Freiburg gekippt wurde. Auch das angedachte Alkoholverbot war umstritten. CDU-Landtagskandidat Levin Eisenmann widersprach seiner eigenen Partei, die dort sogar ein komplettes Feierverbot gewünscht hatte. Das sei nicht zielführend, so der 23-jährige Jurastudent. Gerade wegen Corona bräuchten Menschen Freiräume, nicht nur außerhalb, sondern auch in den Städten.
„Wir haben 2100 Einwohner – und manchmal 3000 Tagesgäste.“