Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)
Wenn die Gegenwart aus der Zukunft betrachtet wird
William Gibsons Roman „Agency“bietet eine ungewohnte Form der Zeitreise und greift aktuelle Themen auf
Wie würde eine Welt aussehen, in der Donald Trump die Präsidentschaftswahl verloren hätte und der Brexit abgelehnt worden wäre? Wenn man William Gibson glauben darf, lautet die Antwort: Etwas besser in einigen Aspekten, deutlich brenzliger in anderen. Doch sein neuer Roman ist keinesfalls eine „Was wäre wenn?“Geschichte geworden, hier stehen die unterschiedlich verlaufenen politischen Entwicklungen eher als Kennzeichen für die Existenz alternativer Zeitachsen in der menschlichen Geschichte.
Denn um diese sowie eine etwas ungewohnte Form der Zeitreise geht es in der aktuellen Trilogie des Amerikaners. Der fasst seine Romane gerne zu unterschiedlichen dicht verknüpften Dreierpacks zusammen – das aktuelle Bündel läuft unter dem Titel „Peripherie“und „Agency“ist hiervon der zweite Band. Zwar betont der Autor, jedes Buch stehe für sich selbst, dennoch sei dem Leser geraten, in das Geschehen mit dem ebenfalls „Peripherie“betitelten Auftaktroman einzusteigen. Dann fälllt es deutlich leichter, sich in die beiden Zeitebenen seiner Handlung einzudenken.
Seit Gibson mit dem 1984 erschienenen wegweisenden „Neuromancer“das Konzept des „Cyberspace“etabliert hatte, sind seine Visionen und Erzählungen zunehmend näher an die Gegenwart gerückt. Das gilt auch für die „Peripherie“-Romane – zusätzlich wird die Gegenwart aber auch aus der fernen Zukunft des 22. Jahrhunderts betrachtet. Nach einem ganzen Bündel an Katastrophen, darunter Klimawandel und Pandemien, das reichlich zynisch unter dem Begriff „Jackpot“zusammengefasst wird, ist die Menschheit stark dezimiert. Die herrschende Schicht besteht aus einer kleinen Gruppe an Oligarchen mit russischer Abstammung, den „Klept“. Diesen ist es gelungen, über einen Computerserver in China Verbindung mit Computersystemen in der Vergangenheit aufzunehmen – genauer gesagt einer Vielzahl von möglichen Vergangenheiten, und es stellt sich die Frage, ob diese „Stubs“durch den Kontakt vielleicht erst erschaffen wurden.
In „Agency“spielt diese Vergangenheit nun in einem alternativen Jahr 2017, das sehr viele Verbindungen zu unserer Realität aufweist – minus Trump und Brexit eben, dafür mit der drohenden Gefahr einer nuklearen Auseinandersetzung im Stellvertreterkrieg in Syrien. Wie zuletzt öfter bei Gibson steht eine starke Frauenfigur mit besonderen Qualifikationen im Mittelpunkt des Geschehens. Hier heißt sie Verity, gilt als „App-Flüsterin“und soll für einen Technikkonzern eine neuartige Künstliche Intelligenz testen. Die Kommunikation erfolgt über eine spezielle Brille, Kopfhörer und Smartphone, aber der virtuelle Avatar namens Eunice knüpft schon sehr schnell eine Vielzahl von eigenen Netzwerken. Bald wird dem Konzern das ganze jedoch zu viel und Verity ist auf der Flucht. Unterstützung bekommt sie dabei auch aus der Zukunft – eine ganze Reihe von Charakteren aus „Peripherie“nimmt Kontakt auf und begleitet Verity etwa in Form von eiligst erschaffenen Drohnen. Ebenfalls dabei sind Figuren aus der Vergangenheit des Vorgängerromans, die sich quasi mit
Umweg über die Zukunft einwählen.
Gute Science Fiction mag sich mit der Zukunft befassen, sagt aber in erster Linie eine Menge über die Gegenwart aus. Auch in „Agency“greift Gibson viele aktuelle Themen auf, etwa die Fortentwicklung digitaler Assistenten und die Frage, wie viel eigenständige Akteursqualität diese entwickeln können. Zum Glück mündet das Ganze nicht in einem altbekannten „Künstliche Intelligenz läuft Amok“-Szenario. Vielmehr hat Eunice eine starke Persönlichkeit und einen trockenen Humor, der sich auf angenehme Art auch durch das ganze Buch zieht.
In einer dreistelligen Zahl oft sehr kurzer Kapitel springt der Autor zwischen den Zeitebenen und gewinnt dabei auch seinem ungewöhnlichen Zukunftszenario neue reizvolle Aspekte ab. Einige Fragen bleiben dabei weiter offen. Ist etwa das massive Eingreifen aus der Zukunft in den „Stubs“eine neuartige Form des Kolonialismus? Antworten darauf liefern hoffentlich der Abschluss der Romanabschlusstrilogie – sowie die geplante Verfilmung als Streaming-Serie, denn die Zukunft und Gegenwart der „Peripherie“würde man gerne auch einmal bildlich vor sich sehen.