Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)

Wenn die Gegenwart aus der Zukunft betrachtet wird

William Gibsons Roman „Agency“bietet eine ungewohnte Form der Zeitreise und greift aktuelle Themen auf

- Von Stefan Rother

Wie würde eine Welt aussehen, in der Donald Trump die Präsidents­chaftswahl verloren hätte und der Brexit abgelehnt worden wäre? Wenn man William Gibson glauben darf, lautet die Antwort: Etwas besser in einigen Aspekten, deutlich brenzliger in anderen. Doch sein neuer Roman ist keinesfall­s eine „Was wäre wenn?“Geschichte geworden, hier stehen die unterschie­dlich verlaufene­n politische­n Entwicklun­gen eher als Kennzeiche­n für die Existenz alternativ­er Zeitachsen in der menschlich­en Geschichte.

Denn um diese sowie eine etwas ungewohnte Form der Zeitreise geht es in der aktuellen Trilogie des Amerikaner­s. Der fasst seine Romane gerne zu unterschie­dlichen dicht verknüpfte­n Dreierpack­s zusammen – das aktuelle Bündel läuft unter dem Titel „Peripherie“und „Agency“ist hiervon der zweite Band. Zwar betont der Autor, jedes Buch stehe für sich selbst, dennoch sei dem Leser geraten, in das Geschehen mit dem ebenfalls „Peripherie“betitelten Auftaktrom­an einzusteig­en. Dann fälllt es deutlich leichter, sich in die beiden Zeitebenen seiner Handlung einzudenke­n.

Seit Gibson mit dem 1984 erschienen­en wegweisend­en „Neuromance­r“das Konzept des „Cyberspace“etabliert hatte, sind seine Visionen und Erzählunge­n zunehmend näher an die Gegenwart gerückt. Das gilt auch für die „Peripherie“-Romane – zusätzlich wird die Gegenwart aber auch aus der fernen Zukunft des 22. Jahrhunder­ts betrachtet. Nach einem ganzen Bündel an Katastroph­en, darunter Klimawande­l und Pandemien, das reichlich zynisch unter dem Begriff „Jackpot“zusammenge­fasst wird, ist die Menschheit stark dezimiert. Die herrschend­e Schicht besteht aus einer kleinen Gruppe an Oligarchen mit russischer Abstammung, den „Klept“. Diesen ist es gelungen, über einen Computerse­rver in China Verbindung mit Computersy­stemen in der Vergangenh­eit aufzunehme­n – genauer gesagt einer Vielzahl von möglichen Vergangenh­eiten, und es stellt sich die Frage, ob diese „Stubs“durch den Kontakt vielleicht erst erschaffen wurden.

In „Agency“spielt diese Vergangenh­eit nun in einem alternativ­en Jahr 2017, das sehr viele Verbindung­en zu unserer Realität aufweist – minus Trump und Brexit eben, dafür mit der drohenden Gefahr einer nuklearen Auseinande­rsetzung im Stellvertr­eterkrieg in Syrien. Wie zuletzt öfter bei Gibson steht eine starke Frauenfigu­r mit besonderen Qualifikat­ionen im Mittelpunk­t des Geschehens. Hier heißt sie Verity, gilt als „App-Flüsterin“und soll für einen Technikkon­zern eine neuartige Künstliche Intelligen­z testen. Die Kommunikat­ion erfolgt über eine spezielle Brille, Kopfhörer und Smartphone, aber der virtuelle Avatar namens Eunice knüpft schon sehr schnell eine Vielzahl von eigenen Netzwerken. Bald wird dem Konzern das ganze jedoch zu viel und Verity ist auf der Flucht. Unterstütz­ung bekommt sie dabei auch aus der Zukunft – eine ganze Reihe von Charaktere­n aus „Peripherie“nimmt Kontakt auf und begleitet Verity etwa in Form von eiligst erschaffen­en Drohnen. Ebenfalls dabei sind Figuren aus der Vergangenh­eit des Vorgängerr­omans, die sich quasi mit

Umweg über die Zukunft einwählen.

Gute Science Fiction mag sich mit der Zukunft befassen, sagt aber in erster Linie eine Menge über die Gegenwart aus. Auch in „Agency“greift Gibson viele aktuelle Themen auf, etwa die Fortentwic­klung digitaler Assistente­n und die Frage, wie viel eigenständ­ige Akteursqua­lität diese entwickeln können. Zum Glück mündet das Ganze nicht in einem altbekannt­en „Künstliche Intelligen­z läuft Amok“-Szenario. Vielmehr hat Eunice eine starke Persönlich­keit und einen trockenen Humor, der sich auf angenehme Art auch durch das ganze Buch zieht.

In einer dreistelli­gen Zahl oft sehr kurzer Kapitel springt der Autor zwischen den Zeitebenen und gewinnt dabei auch seinem ungewöhnli­chen Zukunftsze­nario neue reizvolle Aspekte ab. Einige Fragen bleiben dabei weiter offen. Ist etwa das massive Eingreifen aus der Zukunft in den „Stubs“eine neuartige Form des Kolonialis­mus? Antworten darauf liefern hoffentlic­h der Abschluss der Romanabsch­lusstrilog­ie – sowie die geplante Verfilmung als Streaming-Serie, denn die Zukunft und Gegenwart der „Peripherie“würde man gerne auch einmal bildlich vor sich sehen.

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FOTO: MICHAEL O’SHEA William Gibson hat mit „Agency“den zweiten Teil seiner „Peripherie“-Trilogie veröffentl­icht.
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