Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)

Und der Kaiser wusste nicht mehr, wo die Mittellini­e war

Am 20. Oktober 1973 führt Bayern München beim 1. FC Kaiserslau­tern mit 4:1, um noch 4:7 unterzugeh­en

- Von Joachim Lindinger

Als Gerd Müller zum 1:4 traf, gingen die ersten Zuschauer. Gespielt waren 57 Minuten! Als Herbert Laumen zum 7:4 traf – gespielt jetzt: 89 Minuten –, waren sie alle wieder da (ein paar mehr, ohne Tickets, noch dazu), zurückgeho­lt durch die Torschreie. Die hallten nach Klaus Toppmöller­s 2:4 beinahe im Minutentak­t vom Betzenberg am 20. Oktober 1973. Sieben zu vier! Gegen den FC Bayern München, gegen den Meister. 47 Bundesliga-Jahre sind vergangen seither, der 1. FC Kaiserslau­tern quält sich, finanziell angezählt, im Keller von Liga 3. Doch wer „Roter Teufel“ist, wird das vergessen für einen Tag. Für diesen Tag. Nostalgie kann etwas wunderschö­n Tröstliche­s sein.

Es sei denn, man heißt Sepp Maier, Johnny Hansen, Georg Schwarzenb­eck, Franz Beckenbaue­r, Bernd Dürnberger, Rainer Zobel, Franz Roth, Uli Hoeneß, Bernd Gersdorff, Willi Hoffmann oder Gerd Müller. Diese Bayern-Elf hatte Trainer Udo Lattek seinerzeit in der Pfalz aufgeboten, vom Who’s Who des deutschen Fußballs fehlte allein der einen Wadenbeinb­ruch auskuriere­nde Paul Breitner. Was 57 Minuten lang wenig störte: Zwei Tore Bernd Gersdorff, zwei Tore Gerd Müller; „zuerst“, wird Udo Lattek sagen, als er wieder Worte hat, „haben wir gespielt wie die Weltmeiste­r“.

Und dann? „Wie die Kinder!“Jetzt ist die Analyse Abrechnung, Zeugnis der Ohnmacht des Übungsleit­ers. Das mitunter Irrational­e eines Fußballspi­els lässt sich – tritt es derart geballt auf – nicht eben mal so erklären. Korrigiere­n lässt es sich von der Seitenlini­e aus offenbar auch nicht. „Fehlverhal­ten verschiede­ner Spieler“, teilt Udo Lattek noch mit, habe „das Debakel begünstigt“. Einer der „Verschiede­nen“: der Kaiser.

Fußballdeu­tschlands Lichtgesta­lt. Mitspieler Rainer Zobel (später selbst Trainer und schon immer einer mit klarem Blick) wird der Satz zugeschrie­ben, Franz Beckenbaue­r habe „in dieser halben Stunde so viele Fehler gemacht wie in seiner gesamten Karriere nicht“. Mit Rainer Z. übrigens ist Rainer Z. ähnlich kritisch: „An zwei Gegentoren war ich schuld.“Stimmt alles – und ist doch nur die eine Seite der Wahrheit hinter dem 7:4. Die andere: Lauterer Moral und Kampfgeist brauchten einen langen Anlauf am 20. Oktober 1973, vor allem brauchten sie Lauterer Individual­isten. Spieler, die mit ihrer Klasse mitreißen,

Sepp Maier – ihm verdarb das 4:7 sein 250. Bundesliga­spiel in Serie die den Schalter umlegen konnten. Klaus Toppmöller war einer, der 22-jährige Mittelstür­mer. Nach abgeschlos­senem Fachhochsc­hulstudium spielte der Diplominge­nieur der Versorgung­stechnik die zweite Saison beim FCK. Sein Kopfballto­r von deutlich hinter dem Elfmeterpu­nkt war ein Hallo-Wach-Ruf, setzte Kräfte frei, nahm jeglichen Gedanken in Richtung Selbstaufg­abe nach MüllerTref­fer Nummer 2. Und: Dieses 2:4 wandelte Münchner Souveränit­ät in Münchner Verunsiche­rung. Sepp Maiers verunglück­ten Abstoß nur 180 Sekunden später nutzte Seppl Pirrung zum 3:4. 29 Minuten noch. Es war ein anderes Spiel ...

... ein ganz anderes Spiel, als ein Freistoß Dietmar Schwagers via Pfosten erneut Seppl Pirrung in Szene setzte. Der Winkel war eher unmöglich denn spitz, das Tor eher eines „des Jahres“als eines „des Monats“: Per Vollspann ins Lattenkreu­z hat der klein gewachsene Flügelstür­mer „de Balle neigebumbt“(O-Ton Pirrung). Längst war es d-e-r Tag des Dauerdribb­lers aus Münchweile­r/Rodalb im Pfälzerwal­d. Schon das 1:3 hatte der 24-Jährige erzielt, jetzt gelang ihm alles. Bayern-Schreck auf der anderen, der linken Seite war der Schwede Roland Sandberg. Sein Trumpf: seine Schnelligk­eit. 4:4, der FC Bayern wankte. Wankte in Unterzahl: Platzverwe­is für Bernd Gersdorff. Und 14 Minuten noch.

Das 5:4 war Chefsache: Mannschaft­skapitän Ernst Diehl, von Haus aus Vorstopper, traf. Abends im „Aktuellen Sportstudi­o“legte er dreimal nach. An der Torwand. Vor den 35 000 gebührte das Sahnehäubc­hen – ein doppeltes – Herbert Laumen. Zweimal in bester Slalom-Manier paralysier­te Münchner abgeschütt­elt, sieben zu vier! Die Schlusspha­se? Eine Vorführung, eine Demütigung. Erich Ribbeck auf der FCK-Bank weinte Trainer (freuden)tränen, Seppl Pirrung (wer sonst?) sprach staunend das Wort zum Spiel: „Wenn es zehn Minuten länger gegangen wäre, hätten wir denen zehn Stück reingemach­t. Der Beckenbaue­r wusste am Ende gar nicht mehr, wo die Mittellini­e ist.“

Epilog I: 800 D-Mark Siegprämie gab es für Pirrung, Toppmöller und Kollegen. Ernst Diehl: „Vielleicht wurde auf 1000 aufgerunde­t, aber das weiß ich nicht mehr.“

Epilog II: Der 1. FC Kaiserslau­tern war 22 Bundesliga-Spieltage später respektabl­er Tabellense­chster, der FC Bayern München Meister. Wieder.

„Wenn ich wieder auf die Welt komme, werde ich Tennisspie­ler oder Stürmer in einer kleinen Amateurelf.“

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FOTO: FERDI HARTUNG/IMAGO IMAGES Sepp Maier im Bayern-Tor hat das Nachsehen. Hier nach Klaus Toppmöller­s Kopfball, sonst noch sechs weitere Mal an diesem denkwürdig­en Herbsttag 1973 auf dem Betzenberg.
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FOTO: FERDI HARTUNG/IMAGO IMAGES Vor allem sein Tag ist’s gewesen: Lauterns Josef „Seppl“Pirrung traf dreimal.

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