Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)
Schwangerschaftsstress hinterlässt Spuren
Corona verstärkt die Sorgen werdender Mütter – Projekt soll Abhilfe schaffen
RAVENSBURG - Immer mehr schwangere Frauen sind von psychischen Diagnosen betroffen. Sie haben Geburtsängste, zweifeln an ihrer Fähigkeit, eine gute Mutter zu sein, oder fürchten, den Anforderungen, die ein Leben mit Kind mit sich bringen kann, nicht gewachsen zu sein. Ein Projekt der Universitätskliniken Heidelberg und Tübingen soll dabei helfen, diese Frauen frühzeitig zu finden, um ihnen schnellstmöglich die richtige Behandlung anzubieten. Denn: Mütterlicher Stress kann auch die Entwicklung des Kindes beeinträchtigen.
Das Problem: Bisher werden psychische Belastungen in der Schwangerenvorsorge nicht systematisch erhoben und behandelt. „Im Rahmen der Vorsorgeuntersuchungen bleibt wenig Zeit, um die psychische Situation zu besprechen. Zudem gibt es keine Standards“, sagt Stephanie Wallwiener, Oberärztin Geburtshilfe und Leiterin des Projekts „Mind:Pregnancy“an der UniversitätsFrauenklinik Heidelberg. Und nur wenige betroffene Frauen suchen sich eingenständig Hilfe. „Das Thema psychische Erkrankungen in der Schwangerschaft ist immer noch ein Tabuthema. Viele Frauen fühlen sich nach wie vor stigmatisiert und nehmen daher keine Hilfe in Anspruch.“
Diese Versorgungslücke soll das Projekt „Mind:Pregnancy“, das durch den Innovationsfonds des Gemeinsamen Bundesauschusses gefördert wird, möglichst niederschwellig schließen. Schwangere, die bei einer der beteiligten Krankenkassen versichert sind, können sich auf freiwilliger Basis mit einem Fragebogen auf Anzeichen von Depressionen, Ängsten und Stress untersuchen lassen. Zeigt sich in der ersten Untersuchung, dass eine schwangere Frau stark psychisch belastet ist, kontaktieren Mitarbeiter der UniversitätsFrauenkliniken Heidelberg und Tübingen sie. Die Patientin bekommt direkt psychologische Hilfe. Schwangere, die mildere Anzeichen von Störungen der Stimmungslage zeigen, werden eingeladen, online an einem Selbsthilfeangebot zur Achtsamkeit teilzunehmen.
Hintergrund des Projekts ist der Geburtenreport, eine Datenanalyse von Zahlen der Techniker Krankenkasse zu Kaiserschnitt und Frühgeburt aus dem Jahr 2017. Zentrales Ergebnis des Reports war, dass mehr schwangere Frauen von psychischen Diagnosen betroffen waren, als bis dahin angenommen: Bei rund 38 000 untersuchten Schwangeren wurden in 9,3 Prozent der Fälle Depressionen diagnostiziert, 16,9 Prozent entwickelten eine Angststörung, 11,7 Prozent zeigten akute Stressreaktionen.
Solche psychischen Belastungen können schwerwiegende Folgen haben. „Depressionen während der Schwangerschaft können sich direkt auf den Fötus auswirken und gehen mit erhöhtem Frühgeburtsrisiko und geringerem Geburtsgewicht einher“, sagt Medizinerin Wallwiener. „Studien zeigen, dass durch starken Stress der mütterliche Cortisolspiegel ansteigt. Dies kann die Entwicklung des Kindes beeinflussen und zur Ausbildung von Verhaltensauffälligkeiten oder psychischen Symptomen beim Kind beitragen.“
Doch nicht nur das Kindeswohl ist gefährdet. Bekommen die Frauen keine Hilfe, kann das zu einer Chronifizierung ihrer Symptome führen. „Viele Frauen berichten von sehr schwierigen, häufig komplikationsreichen vorherigen Schwangerschaften und Geburten“, erklärt
Wallwiener. „Diese belastenden Erfahrungen führen bei vielen Frauen dazu, dass sie im gesamten Verlauf der Schwangerschaft ihre Aufmerksamkeit eher auf mögliche Komplikationen und Risiken legen und es ihnen schwerfällt, sich von diesen beängstigenden Gedanken zu distanzieren.“
Seit Beginn des Projekts im Januar 2019 wurden mehr als 5200 Screenings erstellt, in rund zehn Prozent der Fälle wurden Auffälligkeiten festgestellt. In der Corona-Krise sind zwar weniger Frauen auf eine psychische Diagnose hin untersucht worden, die Zahl der auffälligen Fragebögen hat sich jedoch mehr als verdoppelt. Viele Frauen leiden zusätzlich unter Ansteckungsängsten, sorgen sich um die Gesundheit ihres Kindes oder fürchten, bei der Geburt auf sich allein gestellt zu sein.
Obwohl sich die Nachfrage erhöht hat, läuft „Mind:Pregnancy“zum Ende des Jahres planmäßig aus, neue Patientinnen werden schon jetzt keine mehr angenommen. In den nächsten Monaten soll das Projekt evaluiert werden. Zwar ist das erste Fazit positiv, trotzdem ist nicht klar, wie es weitergeht. Man sei bereits mit Krankenkassen in Verhandlung, sagt Wallwiener.
Ihr Ziel ist es, die Unterstützung künftig allen Schwangeren zur Verfügung zu stellen. Die Techniker Krankenkasse zeigt sich dafür bereits offen: „Sollte das Projekt bestätigen, dass ein generelles Screening auf psychische Belastungen in der Schwangerschaft sinnvoll ist, würden wir eine Fortsetzung begrüßen“, erklärt Andreas Vogt, Leiter der TKLandesvertretung Baden-Württemberg.