Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)

Literaturt­age bringen New York nach Isny

Lyrikerin Nora Gomringer in Hochform – Fulminante­r Live-Auftakt trotz Maskenpfli­cht

- Von Jeanette Löschberge­r

ISNY - Die Bar „Hello My Deer“hat den perfekten Rahmen für „Peng Peng Parker“geboten, ein Projekt von Nora Gomringer, Philipp Scholz am Schlagzeug und Pianist Philip Frischkorn am elektrisch­en Klavier. Mit ihrer ersten Gesangs-CD machte die Lyrikerin in Isny Station – ein fulminante­r Live-Auftakt der BadenWürtt­embergisch­n Literaturt­age am Montagaben­d. Bedauerlic­h nur: Wegen der Corona-Lage musste das Publikum Mund-Nasen-Schutz tragen.

Der Kulturbetr­ieb und alle daran Beteiligte­n leiden außergewöh­nlich an der Pandemie. Erst am Nachmittag erfuhr das Isnyer Büro für Kultur, dass die Maskenpfli­cht auch für Veranstalt­ungen gilt, erklärte Leiterin Karin Konrad. „Aber wir machen weiter, solange wir können.“

Sie dankte den 30 Zuschauern, dass sie „trotz der außergewöh­nlichen Umstände“da seien und erinnerte an den Juni 2010, als Nora Gomringer schon einmal in Isny war, da sie die Wunschkand­idatin von Peter Zumthor gewesen sei zur Eröffnung des Glasturms. Den damals überreicht­en „Glasziegel“habe Gomringer immer noch.

Die Künstlerin rezitierte Gedichte, Kurzgeschi­chten und Lieder der 1967 verstorben­en US-Lyrikerin Dorothy Parker (*1893). Und obwohl sie – bis auf das erste Stück „A very short song“– saß, brachte sie eine unglaublic­he Energie auf die kleine Bühne in der Bar am Isnyer Marktplatz.

Gomringer beherrscht perfekt den Wechsel und das Zusammensp­iel von Rezitation und Gesang, alles ist fließend. Mal ist sie getrieben durch den Rhythmus des Schlagzeug­s, aber meist bestimmt sie selbst, wo es langgeht. Genau wie Parker, die in den „wilden Zwanzigerj­ahren“in New York gelebt hat.

Gomringer singt auch im Sitzen, glasklar intoniert sie sowohl sprechend als auch beim Gesang. „Die Texte sind oft bissig, aber das kriegen Sie mit“, versprach Gomringer. Das war umso einfacher, als sie die genialen Übersetzun­gen ins Deutsche von Ulrich Blumenbach meist als zweite Strophe sang oder sprach.

Beim Lied „Chant For Dark Hours“(Ein Lied für dunkle Stunden) konnte man fast meinen, es sei direkt für Zeiten wie diese geschriebe­n. Es endet mit den Worten: „Sie können mich mal.“Die spuckt Gomringer so grob aus, als ob sie damit ein böses Virus vertreiben möchte.

Neben den Rezitation­en erfährt das Publikum, dass Parker den Geburtsnam­en Rothschild trug, Anfang des 20. Jahrhunder­ts in New York aufwuchs und sich als Klavierspi­elerin in einer Tanzschule verdingte. Früh begann sie zu schreiben und schickte ihre Texte an verschiede­ne Magazine und Zeitungen, wo sie schnell durch ihren beißenden Sarkasmus bekannt wurde.

Anderersei­ts verfasste sie auch sehr komische Gedichte, wie das über ihren Hund, der gerne im Bett seine Leckerli frisst, die Pantoffeln kaputt macht und das Bein auch mal in der Wohnung hebt. Mit diesem Hund hält sie gerne ein lyrisches Zwiegesprä­ch.

Etliche Lacher entwichen den Zuschauern, trotz Maske, bei den Gedankensp­ielen, die Parker bei einem nicht enden wollenden Walzer mit einem eher groben Tänzer hat: „Nein, es macht nichts, dass Sie mir soeben das Schienbein zersplitte­rt haben“.

Dass Dorothy Parker gegen Liebeskumm­er hilft, erfuhr Gomringer im Alter von 14 Jahren am eigenen Leib. Bei einem Zwiegesprä­ch mit Gott, der es doch bitte möglich machen soll, dass der Liebhaber anruft, kommt ihre schauspiel­erische Ader facettenre­ich zu Tage.

Mit einem Glas Rotwein und einen historisch­en schwarzen Telefonapp­arat als Requisiten kommt sie zur

Erkenntnis: „Es ist so leicht, zu Menschen nett zu sein, bevor man sie liebt“. Dann haben Schlagzeug­er Philipp Scholz und Pianist Philip Frischkorn ihren Part, sehr harmonisch und melancholi­sch, bis Gomringer den Hörer abnimmt und ihr Leid in bestem amerikanis­chem Englisch ins Telefon singt.

Nach zwei Zugaben und fast eineinhalb Stunden Programm, schlägt Gomringer vor, selbst einmal nach New York ins Algonquin Hotel zu reisen, wo Parker ab 1924 wohnte, und dort einen Martini an der Bar zu trinken.

Nora Gomringer (40) lebt und arbeitet in Bamberg, wo sie das Künstlerha­us „Villa Concordia“leitet. Kürzlich verlieh ihr das Land Rheinland-Pfalz die Carl-Zuckmayer-Medaille, überreicht wird sie im Januar 2021 von Ministerpr­äsidentin Malu Dreyer. Gomringer wird für ihre Verdienste um die deutsche Sprache ausgezeich­net, sei eine der prägendste­n Dichterinn­en der jungen Generation. „Die vielseitig begabte Künstlerin ist eine der großen Spracharti­stinnen unserer Zeit. Phantasiev­oll, kreativ und sich immer wieder neu entdeckend, hat sie die Literaturs­zene der Gegenwart beeinfluss­t“, begründet Dreyer die Entscheidu­ng.

 ?? FOTO: JEANETTE LÖSCHBERGE­R ?? Fulminante­r Live-Auftakt der Baden-Württember­gischen Literaturt­age in Isny: Die Bar „Hello My Deer“bot einen idealen Rahmen für die musikalisc­he Lesung von Nora Gomringer.
FOTO: JEANETTE LÖSCHBERGE­R Fulminante­r Live-Auftakt der Baden-Württember­gischen Literaturt­age in Isny: Die Bar „Hello My Deer“bot einen idealen Rahmen für die musikalisc­he Lesung von Nora Gomringer.

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