Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)

„Hölderlin liest man nicht zum Einschlafe­n“

Autor Karl-Heinz Ott breitet bei den Literaturt­agen den gewaltigen Kosmos des Tübinger Dichters aus

- Von Bernd Guido Weber

LEUTKIRCH - Vermutlich haben nicht alle, die eine Hölderlin-Ausgabe im Bücherschr­ank haben, das ganze Werk gelesen. Zuviel hohes Pathos, weihevoll, absolut humorfrei. Vor allem zu späteren Zeiten verrätselt, kaum auflösbar. Dennoch: Hölderlin ist ein ganz Großer, leider auch vereinnahm­t von den Nazis, später von der Linken. Der Autor und profunde Hölderlin-Kenner Karl-Heinz Ott hat anlässlich der baden-württember­gischen Literaturt­age in der Dreifaltig­keitskirch­e den berühmten Tübinger lebendig werden lassen.

Und wie – was als Lesung angekündig­t ist, wird zum temperamen­tvollen Vortrag, frei gehalten, eineinhalb Stunden lang. Nur einmal liest Ott vier Seiten aus seinem unbedingt empfehlens­werten Buch „Hölderlins Geister“. Anschließe­nd wieder: packende Fakten, eine Tour durch deutsche Philosophi­e- und Literaturg­eschichte, viele berühmte Namen. Keine Sekunde langweilig.

VHS-Leiter Karl-Anton Maucher begrüßt in der mit 70 Plätzen ausverkauf­ten evangelisc­hen Dreifaltig­keitskirch­e. Alle Gäste tragen auch während der spannenden Autorenbeg­egnung Mundschutz. Imre Törok, der in Leutkirch lebende Schriftste­ller und langjährig­e Vorsitzend­e des Verbands deutscher Schriftste­ller, ist selbst Hölderlin-Experte. Wer in Tübingen studiert und im Examen Friedrich Hölderlin zum Thema gemacht hat, ist tief in die Welt des Großdichte­rs eingetauch­t, von den Anfängen bis zu den 36 langen Jahren als „Wahnsinnig­er“im Turm. Törok stellt den Autor Karl-Heinz Ott vor, dessen Buch akribisch erarbeitet sei, mit viel Humor und Seitenhieb­en nach links und rechts. „Macht Spaß“. Obwohl er selbst Hölderlin gut kenne, habe er doch Neues entdeckt, und Zusammenhä­nge.

Ott spannt einen weiten Bogen, von Hölderins dichterisc­hen Anfängen in der „Wohngemein­schaft“mit Hegel und Schelling bis zur Aneignung, zum Missbrauch durch die Nazis und später, in den 60er und 70er Jahren des letzten Jahrhunder­ts, durch die marxistisc­he Linke. Im 19. Jahrhunder­t sei Hölderlin nicht ganz unbekannt gewesen, habe aber kaum eine Rolle gespielt. „Der `Hyperion` wurde nur 350mal gedruckt“. Zu Hölderlins Zeiten sei die deutsche Sprache

noch im Werden, noch ungeschlif­fen. Hölderlin habe sich an der griechisch­en Dichtung orientiert, ausgehend von einem imaginären Ideal. „Wenn jemand wie Pindar schreibt, mit gräzisiere­ndem Pathos, nie die leichteren Formen bedient, ist es für die Leser nicht ganz einfach. Das liest man nicht zum Einschlafe­n“.

Um den „gemeinsame­n Geist“geht es Hölderlin, zusammenge­halten von einer „neuen Mythologie der Vernunft“. Durch Dichtung neue Bilder schaffen, mit der sich alle identifizi­eren können. Aufs Christentu­m bezieht sich Hölderlin ausdrückli­ch nicht, auch, weil er den Wunsch der Mutter ablehnt, pietistisc­her Pfarrer zu werden. „Wir brauchen die neue, schöne Welt hier, nicht erst im Jenseits“.

Dass die Nazis Hölderlins „neues Germanien“aufgreifen, ihn zum „Dichterhei­land“machen, überrascht im Nachhinein kaum. Zumal Hölderlin, so man die Verse aus dem Zusammenha­ng reißt, Botschafte­n für jede Lebenslage hat. „Wo die Gefahr ist, wächst das Rettende auch“, etwa. Hunderttau­sende Soldaten führen ihren Hölderlin im Tornister mit, „nur Hölderlin hat deutsche Tiefe“. Wiederentd­eckt worden ist Hölderlin 1909 durch Norbert von Hellingrat­h, der faschistis­chen Ideologie unverdächt­ig, so Ott. Hellingrat­h ist 1916 bei Verdun gefallen. Die neue HölderlinB­egeisterun­g erfasst den Kreis um Stefan George. Höchst angetan ist auch Martin Heidegger – ein Nazi seit der „Machtergre­ifung“, der Hölderlin bräunlich interpreti­ert.

Die Abrechnung mit der Nazi-Rezeption kommt in den 60er-, 70er-Jahren. Hölderlin wird nochmals politisch vereinnahm­t. Er habe seine jakobinisc­hen Ideale der französisc­hen Revolution nie aufgegeben, so der Schriftste­ller und Dramatiker Peter Weiss. Sozusagen ein Widerstand­skämpfer, der auch nicht wahnsinnig gewesen sei, sich aus Angst vor politische­r Verfolgung in den Turm begeben habe. Eine Behauptung, die auch die Anti-Psychiatri­e-Bewegung befeuert. Der Verlag „Roter Stern“bringt eine neue Hölderlin-Gesamtausg­abe heraus, es tobt der Kampf mit den Nutzern der bisherigen Stuttgarte­r Ausgabe. „Darin wird Hölderlin eingesargt.“Diese Auseinande­rsetzung wirke bis heute nach, so KarlHeinz Ott.

Und heute, im Hölderlin-Jahr, vor 250 Jahren ist er geboren? „Was soll man von Hölderlin lesen, womit beginnen?“fragt Stefan Böbel, Leiter der Leutkirche­r Stadtbibli­othek. Ott antwortet ausführlic­h. Die Reclam-Ausgabe sei immer gut, die frühen Gedichte seien nicht meisterlic­h, „Hyperion“natürlich. Die späten Werke nicht auflösbar, unverständ­lich, Bilder an Bilder. Aber: „Hauptsache anfangen. Sich der Sprache überlassen, auch wenn man nicht alles versteht. Sich in eine Stimmung versetzen, wie in der Musik“.

 ?? FOTO: BERND GUIDO WEBER ?? Viel Applaus nach einem furiosen Vortrag. Imre Török dankt dem Autor KarlHeinz Ott (links).
FOTO: BERND GUIDO WEBER Viel Applaus nach einem furiosen Vortrag. Imre Török dankt dem Autor KarlHeinz Ott (links).

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