Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)

„Ein zweiter Lockdown wäre fatal“

Handwerksp­räsident Hans Peter Wollseifer über die Existenznö­te der Betriebe in der Krise, freie Lehrstelle­n und das Warten auf den Handwerker

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BERLIN - Die Corona-Krise hat die Wirtschaft mit voller Wucht erwischt. Davon ist auch das Handwerk nicht ausgenomme­n. Im zweiten Quartal dieses Jahres verzeichne­te das Handwerk in Deutschlan­d zum ersten Mal seit sieben Jahren einen Umsatzrück­gang gegenüber dem Vorjahresq­uartal – ein Minus von 7,4 Prozent. Wie die Krise das Handwerk verändert, welche Branchen besonders betroffen sind und ob es zu einem Stellenabb­au kommen wird, darüber hat Dieter Keller mit dem Präsidente­n des Zentralver­bands des Deutschen Handwerks (ZDH), Hans Peter Wollseifer, gesprochen.

Herr Wollseifer, ist das Handwerk bisher besser durch die CoronaPand­emie gekommen als andere Wirtschaft­szweige?

Die Corona-Pandemie hat auch das Handwerk schwer getroffen. Bei über einer Million Betrieben ist die Lage aber unterschie­dlich. Es gibt Betriebe, die kämpfen ums Überleben. Umsatzeinb­ußen hatten fast alle. Zwischen Mitte März und Ende Mai haben drei Viertel mindestens 50 Prozent ihres Umsatzes verloren. Vor allem Messebauer oder Caterer hatten einen Totalausfa­ll, und das teils bis heute. Die personenna­hen Handwerke wie Friseure oder Kosmetiker sind auch nach den Lockerunge­n durch die Hygieneauf­lagen in ihrem Geschäft weiter eingeschrä­nkt.

Wo läuft es gut?

Das Bauhandwer­k war bisher kaum betroffen. Hoch- und Tiefbau konnten vorhandene Aufträge abarbeiten. Doch hier könnte es jetzt im Spätherbst und Winter enger werden, weil wenig Aufträge nachkommen. Für die Kfz-Werkstätte­n ist ein Problem, dass es bei vielen Zulassungs­stellen einen Riesenstau gibt. Was nutzt der Verkauf von Pkw und Lkw, wenn die nicht zugelassen werden.

Wie dick ist das finanziell­e Polster bei denen, die mit Problemen kämpfen?

Die Liquidität war bei vielen Betrieben im ersten bundesweit­en Lockdown das Hauptprobl­em. Das Eigenkapit­al ist vielfach abgeschmol­zen. Ein zweiter Lockdown wäre für die Betriebe fatal. Viele haben keine Reserven mehr. Es könnte sie ihre Existenz kosten.

Tut die Bundesregi­erung genug, um einen zweiten Lockdown zu verhindern?

Die Infektions­zahlen steigen erschrecke­nd. Im Frühjahr hat die Regierung rasch und richtig gehandelt und schnell Maßnahmen ergriffen, die auf die Bedürfniss­e der Betriebe zugeschnit­ten waren, etwa mit dem Kurzarbeit­ergeld oder dem Stunden von Steuern und Sozialabga­ben. Es gab Soforthilf­en, die nicht zurückgeza­hlt werden müssen. Auch die Überbrücku­ngshilfen haben geholfen. Jetzt brauchen wir gezielt Hilfen für diejenigen, die aktuell in Probleme geraten. Zudem benötigen auch Betriebe mit bis zu zehn Mitarbeite­rn KfW-Kredite, die zu 100 Prozent verbürgt sind.

Die Bürger stöhnen häufig, wie lange sie auf Handwerker warten müssen. Hat sich das gebessert?

Ja, selbst im Baubereich haben sich die Wartezeite­n verkürzt. Aber je nach Auftrag kann es immer noch einige Wochen dauern, auch wenn das manchen Kunden ärgert.

Die meisten Handwerker leben von Kundenkont­akten. Gibt es bei ihnen viele Corona-Fälle?

Davon ist uns nichts bekannt. Die Betriebe haben sich schnell auf die Pandemie und die Schutzrege­ln eingestell­t, sie tun alles, um sich und die Kunden zu schützen. Sie fahren beispielsw­eise mit mehr Autos zur Baustelle oder lassen ihre Mitarbeite­r direkt dorthin kommen.

Baut das Handwerk wegen der Corona-Rezession Stellen ab?

Wir gehen nicht davon aus, dass wir Ende dieses Jahres deutlich weniger Beschäftig­te haben werden als ein Jahr zuvor. Schon in der Finanzkris­e hat sich gezeigt: Im Handwerk ist man bemüht, seine Mitarbeite­r zu halten. Da wird nicht entlassen, um den Aktienkurs zu stabilisie­ren. Im Handwerk geht es familiär zu: Man kennt und unterstütz­t sich, und man weiß, dass man aufeinande­r angewiesen ist und einander gerade auch in der Nachkrisen­zeit braucht.

Wenn Sie einen Wunsch an die Bundesregi­erung hätten – was wäre das?

Nach der Pandemie müssen die Lasten gerecht verteilt werden. Sie dürfen nicht nur am Mittelstan­d und am Handwerk hängen bleiben. Alle müssen solidarisc­h herangezog­en werden, die Kosten der Pandemie solidarisc­h zu tragen.

Was braucht das Handwerk besonders dringend?

Weitere Entlastung­en! Und zwar aus Sicht der Betriebe an vielen Stellen. Weniger Bürokratie ist angesagt und nicht mehr, wie sie etwa durch ein Recht auf Homeoffice kommen würde. Und wir brauchen Entlastung­en bei Abgaben und Steuern. Auch kleinere Betriebe müssen Rücklagen für

Investitio­nen aufs nächste Jahr übertragen können, statt sie als Gewinn versteuern zu müssen. Zudem muss der Soli sofort für alle abgeschaff­t werden. Und die Bundesregi­erung muss ihre Zusage einhalten, dass die Sozialabga­ben nicht über 40 Prozent steigen.

Schon vor der Corona-Krise war der Nachwuchs ein großes Problem für das Handwerk. Wie viele Lehrlinge werden aktuell noch gesucht?

Ende September waren noch 23.500 Ausbildung­splätze im Handwerk frei.

Wie gut sind die Chancen, sie noch zu besetzen?

Die Betriebe sind hoch motiviert. Sie wollen weiter ausbilden. Wir sind in einer Aufholjagd. Durch den Lockdown ist von Mitte März bis Ende Mai nicht viel passiert. Es gab weder Praktika noch Ausbildung­smessen oder Speeddatin­gs. Den Handwerksk­ammern und -innungen ist es gelungen, Vieles virtuell zu machen. Das ging aber so richtig erst ab Juni los. Deshalb hinken wir hinterher. Ende Mai hatten wir ein Minus von 18 Prozent bei den neuen Lehrverträ­gen. Das hat sich kontinuier­lich abgebaut. Ende September waren wir bei minus acht Prozent, und wir sind zuversicht­lich, es noch weiter zu reduzieren und unter den Wert der Finanzkris­e zu kommen. Da hatten wir ein Minus von sieben Prozent.

Inwieweit konnte das Handwerk die Nachwuchsp­robleme mit Flüchtling­en zumindest reduzieren?

Die Zahl der Ausbildung­sverträge mit Flüchtling­en ist in den letzten fünf Jahren kontinuier­lich gestiegen. Die meisten jungen Leute sind sehr motiviert. Das Handwerk ist für die Integratio­n von Geflüchtet­en prädestini­ert, weil die Betriebe klein sind. Die Jugendlich­en konnten schnell integriert werden, nicht nur in die Abläufe, sondern auch ins soziale Zusammenle­ben. Über die Hälfte der jungen Asylbewerb­er aus den acht häufigsten Herkunftsl­ändern, die in Deutschlan­d eine Ausbildung machen, werden im Handwerk ausgebilde­t.

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FOTO: EMMA INNOCENTI/IMAGO IMAGES Arbeiter in einem holzverarb­eitenden Betrieb: Zwischen Mitte März und Ende Mai haben laut Wollseifer drei Viertel der Handwerksb­etriebe mindestens 50 Prozent ihres Umsatzes verloren.
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FOTO: DPA Hans Peter Wollseifer

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