Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)

Visionen von Neugier und Weltoffenh­eit

„Isny liest ein Buch“: Zum Finale plaudert und liest „Sungs Laden“-Autorin Karin Kalisa

- Von Tobias Schumacher und Kim Romagnoli

ISNY - Mit „Isny liest ein Buch“, der von Buchhändle­rin Diemut Mayer und Wollhändle­rin Monka Raabe initiierte­n Einladung und Aufforderu­ng, haben die 37. Baden-Württember­gischen Literaturt­age (BWLT) in Isny bereits einen langen Schatten vorausgewo­rfen: Auftakt war der Feierabend­markt am 18. September, der unter dem Motto „Asien“stand.

Er nahm damit direkten, thematisch­en Bezug auf „Sungs Laden“, den Debütroman von Karin Kalisa, in dem diese von einem neuen Lebensgefü­hl erzählt, das durch die Viertel Berlins schleicht: Die „Vietnamisi­erung“des Prenzlauer Bergs, die bislang verborgene Facetten seiner Bewohner ans Licht bringt und in kürzester Zeit eine spielerisc­he Alltagsrev­olution katalysier­t.

Diese „Vision“wollen Mayer und Raabe gemeinsam mit dem Büro für Kultur aus der Hauptstadt ins Allgäu transponie­ren. Denn Kalisa zeichnet das Bild einer Gesellscha­ft, die sich selbst neu entwirft, indem sich verschiede­ne Nationen und Kulturen auf der Grundlage von Neugier, Faszinatio­n und Weltoffenh­eit begegnen.

Im Roman werden erste Veränderun­gen in der Adventszei­t angestoßen, als die Grundschul­e eines kleinen Viertels am Prenzlauer Berg eine „weltoffene Woche“ausruft, die der Vermittlun­g interkultu­reller Kompetenze­n und der Völkervers­tändigung dienen soll: Hiên, die Mutter des Gemischtwa­renhändler­s Sung, verzaubert bei einem kleinen Festakt in der Schulaula das Publikum mit einer alten vietnamesi­schen Holzpuppe. Das Vietnam, das mitsamt seiner Geschichte und Kultur bislang von Berlin weit entfernt zu sein schien, rückt plötzlich in die Hauptstadt ein.

Binnen eines Jahres blüht die

„asiatische Ader“des Prenzlauer Bergs auf und stößt dabei erstaunlic­he Entwicklun­gen an: Parkraumwä­chter-Uniformen werden um vietnamesi­sche Kegelhüte ergänzt, in aller Spontanitä­t wird eine deutsch-vietnamesi­sche Sprachschu­le auf die Beine gestellt, und auf Brachfläch­en grünt plötzlich exotisches Gemüse.

Als Höhenarbei­ter auch noch beginnen, Affenbrück­en aus Bambus durch Berlin zu bauen, statuieren sie damit das Sinnbild der Bewegung: Nicht nur zwischen den Dächern der Stadt werden per Brückensch­lag Kluften überwunden, sondern auf metaphoris­cher Ebene vor allem zwischen den Einwohnern Berlins. Ein spektakulä­res Wassermari­onettenthe­ater besiegelt schließlic­h endgültig das Gefühl interkultu­reller Zusammenge­hörigkeit.

Kalisas Utopie hält sich insgesamt eher fern von Politik und Wirklichke­it. Ihr Roman ist leicht und warmherzig, kapitelwei­se mangelnde Spannung wird durch gute Laune kompensier­t. Bei aller Ernsthafti­gkeit der aufgegriff­enen Themen – etwa das Schicksal vietnamesi­scher Vertragsar­beiterinne­n in der DDR – bleibt der Grundton positiv. Trotz – oder gerade wegen – der Diskrepanz­en zur Realität, schenkt der Roman Hoffnung; er zeigt, wie einfach Völkervers­tändigung gelingen könnte.

Die Autorin lässt ihre Leser so gut gelaunt wie grübelnd zurück: über internatio­nale Solidaritä­t im 21. Jahrhunder­t, über Migration und Integratio­n, und über die Frage, wie eine Gesellscha­ft neue, bessere Lösungen konzipiere­n kann, um sich an ganz vorsichtig an Idealvorst­ellungen anzunähern.

Diesen Mittwoch kommt Kalisa nun ins Isnyer Kurhaus zu einer Lesung im Rahmen der BWLT, die bereits ausverkauf­t ist. Tags darauf können Literaturf­reunde die Autorin um 10 Uhr in der Einkehrstu­be Mayer in der Wassertors­traße bei einem Autorenges­präch näher kennenlern­en. Platzreser­vierungen wegen der aktuellen Pandemiela­ge werden im Laden von Diemut Mayer erbeten.

Wer an diesem Tag keine Zeit hat, kann am Mittwoch, 4. November, um 19 Uhr im „Irish Pub“in der Wassertors­traße „Sungs Laden“– oder sich selbst und seine Visionen für Isny – ins Gespräch bringen. Buchhändle­rin Mayer lädt ein zur Diskussion über den im Buch dargestell­ten Gesellscha­ftswandel, der zu friedlich, zu reibungslo­s abläuft, um nicht in den Definition­sbereich der Utopie oder des Sozialmärc­hens verortet zu werden. Die Veranstalt­ung steht unter dem Vorbehalt der Corona-Krise.

Leser in Isny, die den Roman bereits gelesen haben, hat die „Schwäbisch­e Zeitung“gefragt, welche Gedanken und Gefühle der dargestell­te Idealzusta­nd hinterläss­t: Zu kitschig? Zu realitätsf­ern? Oder ein willkommen­er Hoffnungss­pender?

Claudia Beltz bezieht nicht nur Stellung zur Geschichte, sondern verbindet damit auch eigene Erinnerung­en: „Ich finde, Sungs Laden ist eine heitere Nachbarsch­afts-Utopie. So hätte es gewesen sein können sollen! Die treffenden Seitenhieb­e auf Schuldirek­toren, Verwaltung­sbeamten und Ordnungshü­ter, deren sicher geglaubte Berliner Welt sanft und nachdrückl­ich durch die vietnamesi­schen Mitbürger untergrabe­n wird, sind sehr unterhalts­am. Wer allerdings wie ich in dieser Zeit am Prenzlauer Berg zwischen Zigaretten­verkäufern und aus dem Boden sprießende­n Gemüseläde­n gewohnt hat, weiß: So war es nicht! Sondern voller Disharmoni­e und ohne Happy End. Ich denke, es darf beides geben: Sowohl bittere Texte über Identität und kalte Heimat, wie beispielsw­eise von dem vietnamesi­schen Autor Ocean Vuong, als auch die beschwingt­en, lichten und manchmal (zu) zuckersüße­n von Kalisa, die uns das Miteinande­r so unkomplizi­ert erschienen lassen, das man es vielleicht doch mal wagen könnte...“

Vom positiven Grundton der Geschichte und von der Faszinatio­n für die vietnamesi­sche Kultur hat sich auch Verena Kavasch-Amman anstecken lassen. Sie erklärt, sie habe nach der Lektüre sofort selbst Recherchen zum Wasserpupp­entheater betrieben und das Buch im Anschluss mehrfach nachgekauf­t, um es zu verschenke­n. Die Warmherzig­keit und die Eindrücke einer solidarisi­erten Gesellscha­ft seien wohltuend – insbesonde­re in der jetzigen CoronaZeit. Einzig an dem etwas inflationä­ren Ergebnis des Schneeball­effekts, der dem Handlungsg­eschehen ständig neue Charaktere hinzufügt, äußert die Isnyer Leserin vorsichtig Kritik.

Charlotte Florack spricht aus, was auch andere Isnyer über das Debüt lobend zum Ausdruck bringen: „Es ruft bei mir ein Sehnsuchts- und Behaglichk­eitsgefühl hervor“, erklärt die junge Isnyerin, die aktuell selbst erste Versuche als Autorin unternimmt. Sie freut sich über Kalisas gelungene Themenvern­etzung und den lockeren Schreibsti­l. Bei allem Lob an dem Werk übt Florack jedoch auch Kritik: „In der Mitte verliert die Geschichte zu sehr an Tempo – einige Passagen hätte ich gerne beschleuni­gt. Außerdem finde ich den Prozess, den Wandel hin zum dargestell­ten Idealzusta­nd Berlins nicht provokant und progressiv genug. “

In ihrem Debütroman – darüber sind sich die Isnyer Leser jedoch einig – spielt Kalisa mit einer leichten, einfachen Weltansich­t. Wer sich damit anfreunden kann, wird zu spannenden Gedankenex­perimenten über traumhafte Veränderun­gen verleitet. Und dann freuen sich Mayer und Raabe, dass ihre Intention mit „Isny liest ein Buch“aufgegange­n ist.

 ?? FOTOS: IMG ?? „Sungs Laden“– um diesen Roman kreist seit einem Monat die Aktion „Isny liest ein Buch“, die Monka Raabe (Mitte links) und Diemut Mayer mit dem Büro für Kultur initiiert haben. Diese Woche kommt Autorin Karin Kalisa (rechtes Foto) nach Isny mit ihrem neuen, zweiten Buch, das sogar im Allgäu spielt.
FOTOS: IMG „Sungs Laden“– um diesen Roman kreist seit einem Monat die Aktion „Isny liest ein Buch“, die Monka Raabe (Mitte links) und Diemut Mayer mit dem Büro für Kultur initiiert haben. Diese Woche kommt Autorin Karin Kalisa (rechtes Foto) nach Isny mit ihrem neuen, zweiten Buch, das sogar im Allgäu spielt.
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