Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)
Von Räubern, Kalkbrennern, der Pest und verheerenden Stürmen
Der Altdorfer Wald im Laufe der Jahrhunderte – Geschichte und Geschichten vom Schwarzen Veri und dem Bauernjörg
KREIS RAVENSBURG - „Wer ein junges, hübsches Mädchen hat, der schickt’s nicht in den Wald. Denn im Wald, da sind die Räuber, die verführ’n ein Mädchen bald!“Text und einprägsame Melodie des alten Volksliedes gehen bei einer gemächlichen Wanderung vom Fuchsenloch quer durch den Altdorfer Wald, das größte zusammenhängende Waldgebiet Oberschwabens, nicht aus dem Kopf. Zumal am angepeilten Ziel, in Weißenbronnen, ja früher tatsächlich Räuber einen ihrer Schlupfwinkel hatten, nämlich die Bande des Franz Xaver Hohenleiter, genannt Schwarzer Veri, seiner Spießgesellen und deren Bräute. Hohenleiter wurde 1819 gefasst, in einen Turm in Biberach eingesperrt und dort vom Blitz erschlagen, noch bevor ihm der Prozess gemacht werden konnte.
Fünf Kilometer auf bequemen, gut beschilderten Wegen (Albvereins-Markierung blauer Punkt) sind es vom Fuchsenloch (östlich von Weingarten bei Erbisreute) bis Weißenbronnen (zwischen Bergatreute und Wolfegg). Einsam ist es, weit und breit keine Menschenseele zu entdecken. Teilweise begleitet ein murmelndes Bächlein den Wanderer. Staunend steht er vor mächtigen Fichten, die der Sturm wie Streichhölzer geknickt oder entwurzelt hat.
Am Ziel angekommen, im idyllisch im Tal der Wolfegger Ach gelegenen Weißenbronnen, sucht der Wanderer vergeblich nach einer Informationstafel über die spannende Geschichte dieses herrlichen Fleckchens Erde, der einmal so etwas wie ein Hotspot im Altdorfer Wald war und keineswegs in einem solchen Dornröschenschlaf lag wie heutzutage. War Weißenbronnen doch noch bis in die achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts ein beliebtes Ausflugsziel der Oberschwaben, die nur zu gern in der alten Waldschenke gleich neben den rauschenden Wasserkaskaden des zu Tal eilenden Bächleins einkehrten oder auf der Wiese nebenan picknickten. Der Schwarze Vere, mit Bruder und Gespielin
lebensgroß auf die Fassade des alten Wirtshauses gemalt, in dem in längst vergangenen Zeiten allerlei zwielichtige Gestalten ein- und ausgegangen sein müssen und wahrscheinlich die Gaunersprache, das Rotwelsche, tonangebend war, regten die Fantasie mächtig an. In dem Krimi „Tierisch kriminell“, erschienen 2015 als eBook im Gmeiner-Verlag, hat das Autoren-Quartett Heike Wolpert, Helene Wiedergrün, Ralf Waiblinger und Susanne Kronenberg diesem verschwiegenen Örtchen ein literarisches Denkmal gesetzt. „Wisst Ihr noch“, so heißt es dort, „wie man in den sechziger Jahren Sonntagsnachmittagsspaziergänge zum Weißen Bronnen gemacht hat? frage ich. Auf der Wiese am Bach wurde die Picknick-Decke ausgebreitet, und wenn man brav war, bekam man ein Eis im Gasthaus...“
Doch die alte Schenke gibt es schon lange nicht mehr. Nur noch aus der Ferne ist das alte Gemäuer neben zwei moderneren Häusern auszumachen, so wie auch die Wasser-Kaskaden, denn das ganze Areal, wo sich früher viele Ausflügler tummelten, ist jetzt weiträumig eingezäunt. Längst vorbei auch die Zeit, da in Weißenbronnen regelmäßig Erholungsmaßnahmen für Kinder stattfanden, deren Lachen und Geschrei die Stille durchbrachen. Ja, in diesem Ort hängen viele Erinnerungen, auch bei der Ravensburger Schwarzen Veri Narrenzunft, die hier - natürlich hier! - 1971 ihre erste Zunftratssitzung abhielt. Und so mancher pflichtet sicher dem Dichter Clemens Maria Stolz bei, der da reimte: „Des Lebens Überdruss ist bald zerronnen. Dafür schuf Gott den schönen Weißenbronnen.“
Im Wald, da waren aber keineswegs nur die Räuber. Im Altdorfer Wald bei Weißenbronnen, da waren jahrhundertelang auch die Steinhauer und Kalkbrenner zugange, wie in einem Aufsatz von Rudolf Fessler nachzulesen ist („Kalktuff aus Weißenbronnen“, erschienen 1999 in der Zeitschrift „Im Oberland“, Heft 2). Wo sich heute ein Naturschutzgebiet mit vielen seltenen Pflanzen am Talhang erstreckt, über den sich der erwähnte kleine Wasserfall ergießt, wurde noch bis 1965 an einer bis zu zehn Meter hohen Wand Tuffstein abgebaut, ein Naturmaterial, das als Stein oder daraus gebranntem Kalk damals von großer wirtschaftlicher Bedeutung war. Steinbauten waren im Mittelalter der pure Luxus. Den konnten sich nur der Adel, die Klöster und die wohlhabenden Reichsstädte leisten. Und so wurde Kalktuffstein aus Weißenbronnen bereits im 12. Jahrhundert für den Bau des ersten Klosters auf dem Martinsberg in Weingarten verwendet. Auch für die Basilika wurde diese Rohstoffquelle
bei Weißenbronnen extrem genutzt. „Es müssen im Zeitraum zwischen 1677 und etwa 1745 riesige Mengen an Tuffsteinquadern und Brandkalk von Weißenbronnen zum Martinsberg transportiert worden sein“, heißt es bei Rudolf Fessler. Das „Reichsgotteshaus Weingarten“(Kloster) gehörte zu den vier„Waldherrschaften“die getrennt auf vier Feldern zum Abbau berechtigt waren, sowie die Reichsstadt Ravensburg, die Landvogtei Schwaben und die Truchsessen von Waldburg. Immer wieder kam es im Laufe der Zeit zwischen diesen Anteilbesitzern im Altdorfer Wald zum Streit, nicht zuletzt deshalb, weil das Kalkbrennen unheimlich viel Buchenholz verschlang. Bereits 1599 musste sich Kaiser Rudolf in Prag einschalten, der zur Klärung und Schlichtung eine Kommission einsetzte.
Im Wald, da waren natürlich auch die Soldaten. Im Bauernkrieg 1525 sind sicher Haufen aufständischer Bauern und die Landknechte von Georg Truchsess Freiherr zu Waldburg (1488 bis 1531), genannt der „Bauernjörg“, durchgezogen, der als oberster Feldhauptmann des Heeres des Schwäbischen Bundes den Aufstand der Bauern brutal niederschlug. Er war auf der Seite der Herrschenden die überragende Gestalt des Bauernkrieges, so wie die Waldburg (1220 bis 1240 Aufbewahrungsort der Reichsinsignien) am südlichen Ende des Altdorfer Waldes, einer seiner Herrschaftssitze, dieses große Waldgebiet überragt. Im Dreißigjährigen Krieg (1618 bis 1648), so ist der Ortschronik von Bergatreute zu entnehmen, musste das Dorf 1633 den Durchritt von 7000 spanischen Reitern erleben und ein Jahr später raffte die Pest im Kernort alle Bewohner bis auf 20 dahin.
Im Wald, da waren aber immer auch die Förster, die Waldarbeiter und Waldarbeiterinnen, die Holzrücker,
Fuhrleute, Jäger, Fischer, Sägewerker, Holzkäufer und Reisschlagleute. Es muss dort früher lebendiger zugegangen sein als heutzutage. Jochen Jauch, von 1983 bis 2000 Chef im Forstrevier Bergatreute, das einen großen Teil des Altdorfer Waldes umfasst, hat ihnen in einem mit vielen historischen Fotos 2012 im Verlag Eppe GmbH Bergatreute erschienenen Buch ein Denkmal gesetzt. „Forst, Gewässer und Menschen im Altdorfer Wald – von der Försterei Gambach zum Forstrevier Bergatreute“lautet der Titel und ist eine wahre Fundgrube. Der Autor, ein überaus erfahrener Forstbeamter, der übrigens Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts Entwicklungshelfer in Afghanistan
gewesen war, zeichnet in seinem Überblick über 100 Jahre Altdorfer Wald keineswegs nur das Bild einer heilen Waldwelt, wenn er in die Geschichte zurück blendet.
Vielmehr berichtet er von umfangreichen Rodungen für die Landwirtschaft vom 12. bis ins 15. Jahrhundert, von hemmungsloser Waldbeweidung im 18. Jahrhundert, unter dem der Altdorfer Wald, von Natur aus ein Buchen/Tannenwald, stark litt, vom Siegeszug der rasch wachsenden, von der Forstwirtschaft geförderten Fichten-Monokulturen und riesigen Sturmschäden als Folge, etwa bei der verheerenden Unwetter-Katastrophe, die am 20. August 1938 über Bergatreute und den Wald hereinbrach. Beim Nachlesen der abgedruckten Schilderungen von Zeitzeugen läuft es einem heute noch kalt den Rücken hinab. Auch „Vivian“und „Wiebke“1990, sowie der Jahrhundertsturm „Lothar“1999 sind in dem Buch beschrieben.
Wie schwer früher die Waldarbeit ausschließlich von Hand mit der Axt und der „zweimännigen Waldsäge“war, bevor in den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts auch im Revier Bergatreute die ersten Motorsägen die Schinderei erträglicher machten, davon vermittelt in dem Buch ein Kapitel einen genauen Begriff, in dem der Alltagsablauf der Waldarbeiter einst minutiös geschildert ist. Damals waren viel mehr Waldarbeiter im Einsatz als heutzutage im Zeitalter der Vollernter.
Nur am Rande sei hier erwähnt, dass auch im Altdorfer Wald ab 1931 per Notverordnung der Wegebau durch einen „Freiwilligen Arbeitsdienst“angekurbelt wurde. Junge, arbeitslose Burschen erhielten in dieser Notzeit der Weltwirtschaftskrise eine erste, allerdings kümmerlich bezahlte Arbeitsmöglichkeit. Tagesverdienst: 25 Pfennige. Dafür bekam man „sechs Zigaretten und fünf Rahmbonbons“. Und auch das war ein hartes Kapitel Geschichte im Altdorfer Wald: nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges die umfangreichen sogenannten „Reparationshiebe“, auf die die Franzosen bestanden. „Die Besatzungsjahre waren eine sehr bittere Zeit für die Forstwirtschaft“, resümiert Jochen Jauch das Wüten französischer Holzfällerkommandos, die auch hemmungslos wilderten. Große Flächen wurden damals kahlgeschlagen, das Holz wurde nach Frankreich abtransportiert. Bei der mühsamen Wiederaufforstung halfen Bergatreuter Schüler mit. Selbstverständlich geht Jochen Jauch in seinem Buch auch auf Besonderheiten in „seinem“Revier ein. So erwähnt er Douglasien und Mammutbäume, Waldhütten, beschreibt stille, abgelegene Weiher, Quellen und Brunnen, Natur- und Landschaftsschutzgebiete.
Im und am Altdorfer Wald, da gab es aber auch traditionsreiche Gasthäuser, nicht nur die Waldschenke in Weißenbronnen, sondern auch das legendäre „Waldbad Baienfurt“, dessen Geschichte ab 1900 der Autor am Schluss seines Buches seine Referenz erweist, so wie auch der „Gastwirtschaft zur Traube“in Gambach („Ölkänntle“), die 150 Jahre bis 1994 bestand. Die solide Dorfwirtschaft war ein beliebter Treffpunkt der Förster, Jagdgäste, Waldarbeiter, Fuhrleute und Holzrücker. „Das Bier“, so schreibt Jochen Jauch, „stand jederzeit gut temperiert und greifbar am Kachelofen bereit. Waren die Wirtsleute noch nicht anwesend, bediente man sich eben selbst... Es war immer äußerst unterhaltsam und lustig. Auf der 'reichhaltigen Vesperkarte' gab es drei Variationen an Schübling: Schübling mit Brot, Schübling warm, oder Schübling als Wurstsalat. Es hat immer allen gut geschmeckt.“Eine weitere Probe seines Humors gibt der Autor am Schluss seines Schlusswortes mit einem bekannten Spruch, mit dem sich die Grünröcke gelegentlich auch selbst auf die Schippe nehmen: „Am schönsten hat's die Forstpartie, der Wald, der wächst auch ohne sie...“
der Serie zum Altdorfer Wald gibt es in einem Dossier online: www.schwäbische.de/ altdorferwald