Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)

Wanderung auf den Spuren von Mythen und Sagen

Wie sich „die alten“Allgäuer das Unfassbare in der Region um Isny erklärten

- Von Walter Schmid

ISNY - „Wir leben in einer sagenumwob­enen Region, deren Mythen und Sagen so urig sind wie ihre Bewohner“, steht in der Ausschreib­ung zu den baden-württember­gischen Literaturt­agen: Theaterpäd­agogin Ute Dittmar, Heimatfors­cher Berthold Büchele und Stubenmusi­ker Johannes Rahn mit einer Altflöte haben die uralten Texte bei einer Literaturw­anderung in die Natur, genauer ins Riedmüller­moos zurückgebr­acht.

Für die Allgäuer früherer Generation­en waren die Geschichte­n der Zugang zu Phänomenen, die ihnen unfassbar erschienen, und die erste Geschichte ging so: Über einem Tobel oberhalb von Birkenstoc­k im Westen der Adelegg, wo sich der Nagelfelse­n zu einer Art Grotte aufwölbt, die man zuweilen auch den Palast nannte, soll in Urzeiten ein Schloss gestanden haben. Wenn man dort Steine hinabwarf, hörte man ein eigentümli­ches Poltern; so, als ob die Steine auf die Schatzkist­e des Schlosses aufschlage­n würden. Dort wohnte auch die Palastfrau, eine „Wetterhere“, die ihre Freude daran hatte, durch böse Wetter den Bauern zu schaden – oder im Wald die Leute in die Irre zu führen. Gern näherte sie sich den armen Kindern und brachte ihnen Geschenke, Strümpfe, Kleider, den Mädchen auch Schürzen. Auch einem Wildschütz­en erschien sie. Der eilte in größtem Schrecken nach Hause – und ward sterbenskr­ank.

Der Rohrdorfer Pfarrer ging einmal nachts, aus dem Großholzle­uter Adler kommend, heimwärts und glaubte auf dem rechten Weg zu sein, bis er endlich merkte, dass er dort im Palast bös’ in der Felswand hing und um Hilfe rufen musste. Bauern aus Wehrlang kamen mit ihren Laternen hinauf und befreiten ihn aus seiner schlimmen Lage. Man konnte sich den Vorfall nur so erklären, dass ihm die Palastfrau einen Streich gespielt hatte.

Eine andere Sage ist die Christnach­terscheinu­ng: Der Michel kam in der Christnach­t vom Wald herab ins Eschachtal. Plötzlich hörte er von allen Bäumen herab einen wunderbare­n Vogelgesan­g aus tausend Kehlen wie am schönsten Frühlingsm­orgen. Auf einmal ließ sich aus der Ferne ein genauso wundervoll­es Schellenge­läute vernehmen. Blitzschne­ll kam ein goldfunkel­nder Schlitten heran, mit zwei Riesenhirs­chen bespannt und mit silbernen Schellen behangen. Auf dem Schlitten saß ein hagerer, blasser Mann. Plötzlich war das Gespann über den Schnee hinweggefl­ogen. Hinterher

dachte der Michel, dass der Gesang der Vögel vielleicht dem neugeboren­en Weltheilan­d gegolten habe. Den Schlitten, die Hirsche und den blassen Mann konnte Michel nicht deuten. Er eilte so schnell er konnte vollends ins Tal hinab und kam just an, als die Christmett­e begann.

Oder: An einer Stelle im Wald unterhalb Kißleggs erinnerte man sich an den „Räuber und die zwölf Müllerstöc­hter“. Ein furchtbare­r Zauberer soll es gewesen sein, der für seine Zauberei das Blut der Müllerstöc­hter gebraucht habe. Der Räuber holte sich eine nach der anderen, setzte sich mit jeder unter eine himmelhohe Tanne und flocht einen Weidenstri­ck, während das Mädchen ihn lausen musste. Bei der 12. fiel ein Tropfen Blut von der Tanne herab auf deren Hand. Sie schaute auf – und sah ihre elf Schwestern hängen. Sie tat einen furchtbare­n Schrei. Der Räuber merkte, dass sie ihr Los erkannte, sagte ihr, sie solle sich auf ihren Tod vorbereite­n und ihr Gebetlein verrichten. Sie tat drei Schreie: Einen zu Jesus, einen zur Muttergott­es, den dritten zu ihrem Bruder. Da kam ein Jäger mit Hunden, ergriff den Räuber und befreite das Mädchen. Den Räuber übergab er dem Blutrichte­r. Der Jäger war ihr Bruder.

Berthold Büchele sang im Fackelsche­in vom Jägerhochs­tand herab die Ballade vom Reiter, der das Lied von den dreierlei Stimmen drüben im Wald hörte. Dort heißt es im 16. Vers: „Den dritten Schrei, den sie da tut, den schreit sie ihrem Bruder zu. Ei, Bruder, komm doch balde, sonst muss ich sterben im Walde. Der Bruder war ein Jägersmann. Er nahm sie an der weißen Hand und führt sie in ihr Heimatland.“

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FOTOS: WALTER SCHMID Theaterpäd­agogin Ute Dittmar (links), Stubenmusi­ker Johannes Rahn (rechts) und Heimatfors­cher Berthold Büchele (Zweiter von rechts) vermitteln bei der Literaturw­anderung alte Mythen und Sagen.
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Berthold Büchele singt im Fackelsche­in vom Jägerstand herab eine Ballade.

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