Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)
Wanderung auf den Spuren von Mythen und Sagen
Wie sich „die alten“Allgäuer das Unfassbare in der Region um Isny erklärten
ISNY - „Wir leben in einer sagenumwobenen Region, deren Mythen und Sagen so urig sind wie ihre Bewohner“, steht in der Ausschreibung zu den baden-württembergischen Literaturtagen: Theaterpädagogin Ute Dittmar, Heimatforscher Berthold Büchele und Stubenmusiker Johannes Rahn mit einer Altflöte haben die uralten Texte bei einer Literaturwanderung in die Natur, genauer ins Riedmüllermoos zurückgebracht.
Für die Allgäuer früherer Generationen waren die Geschichten der Zugang zu Phänomenen, die ihnen unfassbar erschienen, und die erste Geschichte ging so: Über einem Tobel oberhalb von Birkenstock im Westen der Adelegg, wo sich der Nagelfelsen zu einer Art Grotte aufwölbt, die man zuweilen auch den Palast nannte, soll in Urzeiten ein Schloss gestanden haben. Wenn man dort Steine hinabwarf, hörte man ein eigentümliches Poltern; so, als ob die Steine auf die Schatzkiste des Schlosses aufschlagen würden. Dort wohnte auch die Palastfrau, eine „Wetterhere“, die ihre Freude daran hatte, durch böse Wetter den Bauern zu schaden – oder im Wald die Leute in die Irre zu führen. Gern näherte sie sich den armen Kindern und brachte ihnen Geschenke, Strümpfe, Kleider, den Mädchen auch Schürzen. Auch einem Wildschützen erschien sie. Der eilte in größtem Schrecken nach Hause – und ward sterbenskrank.
Der Rohrdorfer Pfarrer ging einmal nachts, aus dem Großholzleuter Adler kommend, heimwärts und glaubte auf dem rechten Weg zu sein, bis er endlich merkte, dass er dort im Palast bös’ in der Felswand hing und um Hilfe rufen musste. Bauern aus Wehrlang kamen mit ihren Laternen hinauf und befreiten ihn aus seiner schlimmen Lage. Man konnte sich den Vorfall nur so erklären, dass ihm die Palastfrau einen Streich gespielt hatte.
Eine andere Sage ist die Christnachterscheinung: Der Michel kam in der Christnacht vom Wald herab ins Eschachtal. Plötzlich hörte er von allen Bäumen herab einen wunderbaren Vogelgesang aus tausend Kehlen wie am schönsten Frühlingsmorgen. Auf einmal ließ sich aus der Ferne ein genauso wundervolles Schellengeläute vernehmen. Blitzschnell kam ein goldfunkelnder Schlitten heran, mit zwei Riesenhirschen bespannt und mit silbernen Schellen behangen. Auf dem Schlitten saß ein hagerer, blasser Mann. Plötzlich war das Gespann über den Schnee hinweggeflogen. Hinterher
dachte der Michel, dass der Gesang der Vögel vielleicht dem neugeborenen Weltheiland gegolten habe. Den Schlitten, die Hirsche und den blassen Mann konnte Michel nicht deuten. Er eilte so schnell er konnte vollends ins Tal hinab und kam just an, als die Christmette begann.
Oder: An einer Stelle im Wald unterhalb Kißleggs erinnerte man sich an den „Räuber und die zwölf Müllerstöchter“. Ein furchtbarer Zauberer soll es gewesen sein, der für seine Zauberei das Blut der Müllerstöchter gebraucht habe. Der Räuber holte sich eine nach der anderen, setzte sich mit jeder unter eine himmelhohe Tanne und flocht einen Weidenstrick, während das Mädchen ihn lausen musste. Bei der 12. fiel ein Tropfen Blut von der Tanne herab auf deren Hand. Sie schaute auf – und sah ihre elf Schwestern hängen. Sie tat einen furchtbaren Schrei. Der Räuber merkte, dass sie ihr Los erkannte, sagte ihr, sie solle sich auf ihren Tod vorbereiten und ihr Gebetlein verrichten. Sie tat drei Schreie: Einen zu Jesus, einen zur Muttergottes, den dritten zu ihrem Bruder. Da kam ein Jäger mit Hunden, ergriff den Räuber und befreite das Mädchen. Den Räuber übergab er dem Blutrichter. Der Jäger war ihr Bruder.
Berthold Büchele sang im Fackelschein vom Jägerhochstand herab die Ballade vom Reiter, der das Lied von den dreierlei Stimmen drüben im Wald hörte. Dort heißt es im 16. Vers: „Den dritten Schrei, den sie da tut, den schreit sie ihrem Bruder zu. Ei, Bruder, komm doch balde, sonst muss ich sterben im Walde. Der Bruder war ein Jägersmann. Er nahm sie an der weißen Hand und führt sie in ihr Heimatland.“