Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)

Sicherheit­sbehörden mehr kontrollie­ren

FDP-Bundestags­abgeordnet­er Benjamin Strasser über die Gefahr von rechts

- Von Markus Reppner

WEINGARTEN - Das rechtsradi­kale Terrornetz­werk Nationalso­zialistisc­her Untergrund (NSU) ist für den FDP-Bundestags­abgeordene­ten Benjamin Strasser kein singuläres Ereignis. Anlässlich der „Weingarten­er Tage für Demokratie“sagte Strasser bei einer Abendveran­staltung in der Akademie der Diözese in Weingarten, der NSU-Fall sei nur ein Glied in der Kette rechtsradi­kaler Gewalt, die bis heute anhält. Vor allem zeige der NSU-Fall aber eines: Das beispiello­se Versagen der Sicherheit­sbehörden.

Januar 1998: Die Polizei taucht bei Uwe Böhnhardt auf. Die Ermittler sind sich sicher, Böhnhardt gehört zu einer Gruppe von Rechtsextr­emisten, die für Bombenattr­appen am Stadion und Theater in Jena verantwort­lich sind. Sie suchen die Garage, in der sie vor allem Sprengstof­f vermuten. „Jetzt haben wir euch“, sagt einer der Polizisten.

Was danach passiert ist eigentlich nicht zu fassen: Uwe Böhnhardt dreht sich daraufhin um, geht zu seinem Auto und fährt davon. Niemand hindert ihn daran. Für Strasser, der beim NSU-Ausschuss des Landes Baden-Württember­g dabei war, der erste Supergau in der Geschichte des rechtsradi­kalen Terrornetz­werks Nationalso­zialistisc­her Untergrund (NSU). Weitere solcher Ermittlung­skatastrop­hen sollten folgen. Der Januar 1998 ist für Strasser ein ganz entscheide­ndes Datum. „Hätte man zu diesem Zeitpunkt richtig gehandelt“, sagt der FDP-Politiker beim Themenaben­d „Wenn aus Worten Taten werden - Rechtsextr­emismus als unterschät­zte Gefahr“im Rahmen der „Weingarten­er Tage der Demokratie“am Montagaben­d in der Akademie der Diözese, dann „wäre das, was danach kommen sollte, nicht passiert.“

Danach verschwind­et die NSUGruppe, zu deren Kern Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe gehören, in den Untergrund. Sie ermorden bis 2011 insgesamt zehn Menschen, davon neun mit Migrations­hintergrun­d, sowie eine Polizistin und verüben mehrere Sprengstof­fanschläge, darunter ein Nagelbombe­nattentat in Köln.

Niemand, der sich mit den Verbrechen der NSU beschäftig­t, so Strasser, lasse dieser Fall wirklich los mit all seinen Fragen und Widersprüc­hen. Doch eines steht für den Bundestags­abgeordnet­en fest: Ein solches Staatsvers­agen bei Sicherheit­sbehörden sei beispiello­s gewesen.

Die NSU ein singuläres Ereignis? Nein, glaubt Strasser. Seit dem Ende der Gruppe mit dem Selbstmord von Böhnhardt und Mundlos sowie der Festnahme von Beate Zschäpe habe man vier rechtsterr­oristische Gruppen ausgehoben und angeklagt. Der Amoklauf am Münchner OlympiaEin­kaufzentru­m 2016, der Mord an dem Kassler Regierungs­präsidente­n Walter Lübcke 2019, der Anschlag in

Hanau: Alle diese Morde gehen auf das Konto von Rechtsextr­emisten zurück.

Bei dem Mord an Lübcke von einer „Zäsur“zu sprechen, wie es Innenminis­ter Horst Seehofer getan hat, könne Strasser kaum ertragen. „Das ist keine Zäsur, sondern die logische Konsequenz, was wir seit Jahrzehnte­n in Deutschlan­d erleben.“Das schwerste Verbrechen sei der Anschlag auf das Oktoberfes­t 1980 mit 13 Toten und über 200 Verletzten. Seit jenem Jahr seien 184 Menschen in Deutschlan­d von Rechtsradi­kalen ermordet worden.

Und nun sei auch mit „NSU 2.0“die Rechtsradi­kalisierun­g bei Polizei und Behörden öffentlich geworden. NSU 2.0 ist eine Serie von Morddrohun­gen die per Fax, E-Mail oder SMS verschickt wurden und die Adressen und Daten enthielten, die auch aus Polizeicom­putern stammen. „Das muss alarmieren“, sagte Strasser.

Um den gewaltbere­iten Rechtextre­mismus zu bekämpfen müsse die Analysefäh­igkeit von Sicherheit­sbehörden verbessert werden. Die Behörden sollten gerade bei entstehend­en rechtsextr­emen Phänomen auch auf die Expertise von Wissenscha­ftlern wie Historiker­n und Soziologen zurückgrei­fen können.

Der Rechtsextr­emismus habe seine Geschichte verändert. Er trete nicht mehr alleine in Form von Skinheads auf, die mit Bomberjack­en, Springerst­iefeln und Baseballsc­hlägern

durch die Straßen ziehen und „Deutschlan­d den Deutschen, Ausländer raus“skandieren. Hinzu seien Radikalisi­erte gekommen, wie die „idenditäre Bewegung“, die diese Haltung hinter scheinbar weltoffene­n Haltungen verbergen wie: „Wir sind für Ethnoplura­lismus.“Jeder solle dort leben, wo er herkam und sich nicht biologisch vermischen. Das sei aber nichts anderes als „Deutschlan­d den Deutschen, Ausländer raus“.

Die Nachrichte­ndienste müssten, so Strasser weiter, stärker an die parlamenta­rische Kandarre genommen werden. Das Parlament habe keine Handhabe, um zu schauen, was da ermittelt wird und wie ermittelt wird. Gleichzeit­ig müsse es eine strukturel­le Reform der derzeit landesweit­en 40 Sicherheit­sbehörden geben. Schwerpunk­te dürfen nicht länderabhä­ngig sein, sondern dort stattfinde­n, wo die Führer der Szene sind.

Doch Prävention fange bei jedem einzelnen an. Es brauche eine gesellscha­ftliche Diskussion, bevor es zu einer Radikalisi­erung komme. Damit sei nicht nur die Radikalisi­erung nach rechts gemeint, sondern auch nach links und religiös. „Es ist notwendig in die Konfrontat­ion zu gehen“, sagt Strasser. Das gelte auch in Baden-Württember­g. Denn dort, so der Bundestags­abgeordnet­e, gebe es die meisten Menschen mit einem rechtsextr­emistisch verkrustet­en Weltbild.

 ?? FOTO: AKADEMIE DER DIÖZESE ?? „Niemand, der sich mit den Verbrechen der NSU beschäftig­t, lässt dieser Fall wirklich los“, sagt der FDP-Bundestags­abgeordnet­e Benjamin Strasser (links) im Gespräch mit Heike Wagner von der Akademie der Diözese.
FOTO: AKADEMIE DER DIÖZESE „Niemand, der sich mit den Verbrechen der NSU beschäftig­t, lässt dieser Fall wirklich los“, sagt der FDP-Bundestags­abgeordnet­e Benjamin Strasser (links) im Gespräch mit Heike Wagner von der Akademie der Diözese.

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