Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)
Hallo Oma, ich brauch Geld!
Enkeltrick, Corona-Masche, falsche Polizisten – Wie Kriminelle ältere Menschen um ihr Vermögen bringen
Maria Meister hatte ihren Schmuck und ein paar größere Euro-Scheine schon in einen kleinen Karton gelegt, als ihr doch noch Zweifel kamen: Konnte ihre Enkelin wirklich im Krankenhaus liegen, an Schläuche angeschlossen sein und zur Behandlung der Corona-Infektion dringend ein Medikament aus den USA benötigen? Konnte sie in so großer Not sein, dass sie sofort und in bar 20 000 Euro zahlen musste? Hatte wirklich der behandelnde Arzt bei ihr, bei Maria Meister angerufen? Wollte sie, die Großmutter, wirklich dem bisher unbekannten Freund ihrer Enkelin, der in einer Viertelstunde bei ihr auftauchen wollte, an der Haustür ihren gesamten Schmuck und Bargeld aushändigen? Die 88-Jährige wählte den Notruf 110 der Polizei: „Sie wären fast Opfer eines Enkeltrick-Betrügers geworden“, sagte der Beamte der Rentnerin, „wir sind in ein paar Minuten bei ihnen.“
Maria Meister will ihren wirklichen Namen nicht in der Zeitung lesen. Ihr geht es wie vielen anderen Senioren, wenn sie die Polizeiwache anrufen und ihre Naivität eingestehen müssen. Sie schämt sich, „dass ich so gutgläubig war, dass ich nicht früher misstrauisch geworden bin“. Heute weiß die Seniorin, dass sie beinahe Kriminellen, die mit Fangfragen agieren und auf diese Weise Detailwissen aus dem Familienumfeld vortäuschen, auf den Leim gegangen wäre.
Allen Warnungen und Kampagnen der Polizei zum Trotz haben Betrüger im vergangenen Jahr mit dem sogenannten Enkeltrick und als falsche Polizisten rund 10,5 Millionen Euro erbeutet. 13 900: Die Zahl der bekannten Fälle habe sich im Vergleich zum Jahr davor fast verdoppelt, wie aus der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) des Landes Baden-Württemberg für 2019 hervorgeht. Die weitaus meisten Betrüger (13 600 Fälle oder 98 Prozent) scheitern allerdings bereits beim Anruf oder spätestens an der Haustür ihrer Opfer. Allein im Bereich des Polizeipräsidiums Ulm waren im vergangenen Jahr 1974 Trickanrufe angezeigt worden: „Im Jahr zuvor waren es 548 Anzeigen“, sagt Wolfgang Jürgens, Pressesprecher des Präsidiums, „zum Glück hatten die Täter nur in 29 Fällen Erfolg.“Doch die durchschnittliche Schadensumme ist hoch: 60 000 Euro. Eine verletzliche Opfergruppe werde davon überschwemmt. „In vielen Fällen sind die Opfer um ihre gesamten Ersparnisse gebracht worden, ihre Lebensleistung ist weg“, weiß Jürgens. Ältere Menschen sind nach Einschätzung der Opferschutzorganisation Weißer Ring meist das Ziel, weil sie häufig über Vermögen verfügen. Und Bargeld daheim aufbewahren – gerne auch größere Summen.
Bisher geben sich die Betrüger am Telefon häufig als Polizisten aus, die behaupten, sie würden ihre Opfer vor Einbrecherbanden schützen und ihnen helfen, Geld und Schmuck in Sicherheit zu bringen. Mittels Fangfragen nutzen sie die Gutgläubigkeit älterer Menschen im Zusammenhang mit ihrer Familie aus. In anderen Fällen gaukeln die Anrufer vor, Enkel, ehemalige Arbeitskollegen oder Schulfreunde zu sein, und erreichen durch geschickte Gesprächsführung, dass die Geschädigten ihnen Glauben schenken. Die Corona-Krise hat die kriminelle Energie der Täter seit Anfang September erneut befeuert. Jetzt rufen angebliche Ärzte, Pfleger oder Freunde an, die die Senioren unter Druck setzen und mit erfundenen Krankengeschichten Geld und
Schmuck ergaunern wollen. Die Angerufenen werden so unter Stress gesetzt, dass sie bereit sind, Geld und Wertgegenstände an vermeintliche Vertrauenspersonen zu übergeben. Ist dies geschehen, wird die Beute ins Ausland transportiert oder teilweise zum Beispiel bei Goldhändlern vor Ort bereits zu Bargeld gemacht.
Nach Informationen der „Schwäbischen Zeitung“agieren die meisten dieser in Methoden der Gesprächsführung geschulten Anrufer in professionell organisierten Callcentern in der Türkei, ihre Hintermänner sitzen ebenfalls in der Türkei und sind für die deutsche Justiz kaum zu fassen. Nach Recherchen des Rundfunks BerlinBrandenburg (rbb) finden sich zu dieser Masche Banden mit ganz unterschiedlicher Täterherkunft zusammen. Einige Verfahren werden eindeutig der Clankriminalität zugeordnet. Erfahrene Ermittler aus diesem Bereich vermuten gar, dass einzelne Clans mit den Erträgen aus dem Telefonbetrug inzwischen mehr Geld verdienen als mit dem organisierten Drogenhandel, Raub oder Einbrüchen.
„Einzige Voraussetzung für den Mitarbeiter im Callcenter: Er muss perfekt Deutsch sprechen“, sagt ein Ermittler, „dann kann er gezielt Vertrauen aufbauen.“Die Anrufer sind in Deutschland aufgewachsen, dadurch wirken sie auf ihre Opfer sehr authentisch. Fahnder nennen sie „Keiler“. Sie sind einfühlsam, vor allem aber einschüchternd. Sie erfinden Märchen und weben Netze, in denen sich ihre Opfer hoffnungslos verheddern.
In Einzelfällen telefonieren Täter und Opfer immer wieder über Tage und Wochen miteinander, bis das Opfer der Geld- oder Schmuckübergabe zustimmt. Die Vorgehensweise sei meist eine Mischung aus Druck und Charme, sagt Kriminaloberrat Harald Schmidt. Der Geschäftsführer der Polizeilichen Kriminalprävention der Länder und des Bundes in Stuttgart weiß: „Das fängt beim Liebesbetrug zum Beispiel mit einer netten Person an, die eine entsprechend emotionale Beziehung aufbaut.“Sehr schnell können Gefühle eine Rolle spielen. Schmidt: „Die Opfer beschreiben oftmals: Der Täter oder die Täterin hat mich genauso angenommen, wie ich bin. Er wurde zu einem festen Bestandteil des Lebens.“Polizeioberkommissar Klaus Fensterle vom Polizeipräsidium Ulm kann diese Wahrnehmung bestätigen: „Oft freuen sich die Opfer aber auch, dass sie in ihrer Vereinsamung einfach mal einen Anruf bekommen, dass sie Gespräche führen und reden können.“
Es bleibt nicht bei der Charmeoffensive. Fensterle beschreibt, dass die Täter emotionalen Druck aufbauen: „Die Opfer werden in Stresssituationen gebracht, kommen in einen mentalen Tunnel hinein, holen Geld von der Bank.“Am Ende kommen natürlich nie die Enkel zur Übergabe: „Die lokalen Abholer sind am unteren Hierarchieende der Bande zu finden, die wir in seltenen Fällen erwischen“, sagt ein Ermittler.
Noch seltener gelingt es, die Clanchefs zu ermitteln: Anfang dieses Jahres führten deutsche und türkische Polizei zeitgleich einen gemeinsamen Schlag gegen die sogenannte Callcenter-Mafia. Eine 60-köpfige Bande soll bundesweit Personen über fingierte Anrufe durch falsche Polizisten um Millionen betrogen haben. Chef der Bande war nach Informationen des rbb der älteste von vier Brüdern der türkischstämmigen Großfamilie Ö. aus dem Ruhrgebiet. Dieser soll von seiner Villa in Istanbul aus über Jahre das kriminelle Familiengeschäft geführt haben. Mit der Festnahme der Brüder Ö. in der Türkei und in Deutschland gelang es den Behörden zum ersten Mal, Hinterleute der organisierten Kriminalität in Form des Falsche-Polizisten-Tricks zu überführen. Die türkische Polizei legte Callcenter in Istanbul und Antalya still, aus denen die Anrufe kamen.
Zurück zu Maria Meister. Sie hat zwar keinen Schmuck verloren, auch kein Bargeld. Trotz aller Aufklärung über die kriminellen Hintergründe hat sie aber Vertrauen verloren: das Vertrauen in ihre Freunde, in ihre Bekannten und sogar in die eigene Familie. „Ich frage mich immer noch, ob nicht doch jemand aus meinem engeren Umfeld mich hereinlegen wollte“, sagt die 88-Jährige, „ich werde den Verdacht einfach nicht los.“Ermittler sprechen hier von „Gift, das sich durch die Gedanken auf den ganzen Lebensbereich verteilt und die Lebensqualität der Opfer nachhaltig beeinträchtigt.“Erwin Hetger, der Landesvorsitzende der Opferschutzorganisation Weißer Ring und frühere Landespolizeipräsident, spricht von einem Teufelskreis: „Die Menschen ziehen sich zurück, sie begeben sich in die soziale Isolation. Das ist der eigentliche Schaden nach dem Schaden.“