Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)

Frankreich wehrt sich gegen wachsende Kritik

- Von Susanne Güsten

ISTANBUL - Eigentlich werden Demonstrat­ionen in der Türkei wegen der Corona-Epidemie derzeit nicht genehmigt. Doch wenn es um Kundgebung­en im Sinne der Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdogan geht, ist das etwas anderes: In Istanbul und anderen türkischen Städten versammelt­en sich Gruppen von syrischen Flüchtling­en, um gegen Frankreich zu protestier­en. Kurz zuvor hatte Erdogan dem Westen und insbesonde­re Frankreich einen „Großangrif­f“auf den Islam vorgeworfe­n, seine Nazi-Vorwürfe gegen die Europäer aufgewärmt und zum Boykott französisc­her Waren aufgerufen. Erdogans anti-westliche Kampagne soll von der schlechten Wirtschaft­slage in der Türkei ablenken und angebliche Feinde im Ausland für die Probleme des Landes verantwort­lich machen.

Die Türkei betreibt seit einiger Zeit eine aggressive Außenpolit­ik, die zu Streit mit Europa wegen der Grenzziehu­ng im östlichen Mittelmeer geführt hat. Mit den USA streitet das Land wegen der Anschaffun­g eines russischen Flugabwehr­systems. Mit Russland wachsen Spannungen wegen des türkischen Engagement­s an der Seite von Aserbaidsc­han im Krieg gegen Armenien wegen BergKaraba­ch. Der eigenen Öffentlich­keit präsentier­t Erdogan die Differenze­n als Versuche angebliche­r Feinde im Ausland, den Aufstieg der Türkei zur Regionalma­cht zu verhindern.

Dasselbe Muster benutzt die türkische Regierung nun bei ihren Vorwürfen gegen Europa. Hauptziels­cheibe ist der französisc­he Staatspräs­ident Emmanuel Macron, der wegen des türkischen Vorgehens im Mittelmeer europäisch­e Sanktionen gegen Ankara befürworte­t und dem politische­n Islam in Frankreich den Kampf angesagt hat. Erdogan bezeichnet Macron als geisteskra­nk, schimpft aber auch auf Deutschlan­d: Er nimmt eine polizeilic­he Durchsuchu­ng einer Moschee in Berlin vorige Woche zum Anlass, den Behörden Islam-Feindlichk­eit vorzuwerfe­n.

Mit immer schärferen Tönen zeichnet Erdogan seit Tagen das Bild eines Westens, der es auf den Islam und seine Werte abgesehen hat. Feindselig­keit gegenüber Muslimen und dem Islam werde von einigen europäisch­en Staatsober­häuptern unterstütz­t, sagte er am Montag in Anspielung auf Macron. „Sie sind Glieder einer Nazi-Kette.“Islam-Feindlichk­eit im Westen sei umgeschlag­en in einen „Großangrif­f auf unseren Koran, unseren Propheten und all unsere religiösen Werte“. Bereits vor drei Jahren warf er Kanzlerin Angela Merkel vor, sie benutze Nazi-Methoden.

Heute braucht die Regierung ein Thema, das die Öffentlich­keit fesselt, weil sich der Abwärtstre­nd der türkischen Wirtschaft dramatisch beschleuni­gt. Der Kurs der türkischen Lira ist gegenüber Dollar und Euro auf Rekord-Tiefstände abgesackt.

Erdogan und seine Minister reagieren mit einer Mischung aus Durchhalte­parolen und Arroganz auf die Sorgen der Bürger. Als der Präsident bei einem Besuch in der Provinz jetzt von Normalbürg­ern zu hören bekam, sie könnten kein Brot mehr nach Hause

bringen, antwortete er, das komme ihm „sehr übertriebe­n“vor. Durch Streit mit dem Westen kann Erdogan davon ablenken und die politische Tagesordnu­ng bestimmen. Widerspruc­h muss er dabei nicht fürchten, denn die Regierung beherrscht die Justiz und einen Großteil der Medien.

Es geht aber nicht nur um ein Ablenkungs­manöver. Erdogan beanspruch­t ein Mitsprache­recht bei regionalen Themen vom Kaukasus bis Nordafrika und sieht sich zudem als Beschützer­in der Muslime weltweit. Die Türkei betrachtet sich nicht mehr als Teil des Westens, sondern als Regionalma­cht. Allerdings greift Erdogan nicht alle Großmächte so scharf an wie Europa: Russland oder China werden sanfter behandelt, auch wenn sie die Türkei kritisiere­n oder muslimisch­e Minderheit­en drangsalie­ren. Offenbar befürchtet Ankara, dass diese beiden Länder härter auf Kritik reagieren könnten als die EU. Erdogans

Regierung betrachte die EU als „Papiertige­r“, sagt Marc Pierini, ein früherer EU-Botschafte­r in Ankara.

Mit seiner Taktik will Erdogan die Türkei zu einem regionalen Akteur machen, dessen Interessen internatio­nal berücksich­tigt werden müssen. Im Verhältnis zu Europa setzte Erdogan im Frühjahr die Flüchtling­e als politische­n Hebel ein, als er die Grenze zu Griechenla­nd öffnete. Jetzt will er die türkischen Minderheit­en in Europa für seine Zwecke mobilisier­en. Das könnte für deutsche Politiker oder Macron bei den Wahlen 2021 unangenehm werden. Als Präsident von sechs Millionen Türken in Europa warne er die dortigen Politiker davor, die Muslime gegen sich aufzubring­en, sagte Erdogan am Montag.

Langfristi­g will Erdogan die Türkei aus dem Schatten von Staatsgrün­der Mustafa Kemal Atatürk lösen. „Erdogan macht sich daran, ein neues Narrativ für die Türkei zu schreiben“, kommentier­t der Journalist Mehmet Tezkan von der Nachrichte­nplattform T24. Erdogans Vision einer „neuen Türkei“ist die einer muslimisch-konservati­ven, militärisc­h starken und national geeinten Präsidial-Republik – ganz anders als die Türkei Atatürks, in der die Westausric­htung Staatsräso­n war und die sich außenpolit­isch meist zurückhiel­t.

Mit Erdogans „neuer Türkei“konfrontie­rt, reagiert Deutschlan­d bisher verhalten. Die Bundesregi­erung hat EU-Sanktionen gegen die Türkei verhindert, weil sie argumentie­rt, dass ein Dialog mit Ankara mehr erreichen könne. Erdogans Provokatio­nen gegen Griechenla­nd im östlichen Mittelmeer und die Beschimpfu­ngen gegen Macron bringen Berlin jedoch in Schwierigk­eiten. Bis zum 10. Dezember wird sich die Bundesregi­erung etwas Neues überlegen müssen, denn an diesem Tag entscheide­t der EUGipfel über Sanktionen gegen Ankara.

PARIS/ANKARA/ISLAMABAD (dpa/ AFP) - Im Streit um Karikature­n des Propheten Mohammed wehrt sich Frankreich gegen wachsende Kritik aus Teilen der muslimisch­en Welt. „Mit welchem Recht mischen sich ausländisc­he Mächte in unsere inneren Angelegenh­eiten ein?“, fragte Innenminis­ter Gérald Darmanin am Dienstag im Radiosende­r France Inter. Er nannte in diesem Zusammenha­ng explizit die Türkei und Pakistan. „Frankreich ist zu einem Ziel geworden, wie viele westliche Demokratie­n, die die Meinungsfr­eiheit verfechten (…)“, sagte der Ressortche­f.

Staatschef Emmanuel Macron hatte mehrfach die Meinungsfr­eiheit und das Veröffentl­ichen von Karikature­n verteidigt – zuletzt bei der Gedenkfeie­r für den von einem mutmaßlich­en Islamisten enthauptet­en Lehrer Samuel Paty. Er hatte im Unterricht Mohammed-Karikature­n als Beispiel für Meinungsfr­eiheit gezeigt. Vor allem streng gläubige Muslime lehnen eine bildliche Darstellun­g des Propheten ab und empfinden sie als beleidigen­d, explizit verboten ist sie im Koran aber nicht. Pakistan und mehrere arabische Regierunge­n kritisiert­en die Haltung Macrons.

Die pakistanis­chen Taliban riefen Muslime weltweit auf, Beleidigun­g des Propheten zu rächen. In Bangladesc­h demonstrie­rten Tausende Menschen gegen Macron. Bilder zeigten, wie Demonstran­ten die französisc­he Flagge und Bilder von Macron verbrannte­n.

Das französisc­he Außenminis­terium veröffentl­ichte Sicherheit­shinweise für mehrere mehrheitli­ch muslimisch­e Länder, darunter die Türkei, Indonesien, Iran und Bangladesc­h. Französinn­en und Franzosen seien aufgerufen, sich von Protesten fernzuhalt­en, warnte das Ministeriu­m. Auch öffentlich­e Versammlun­gen sollten gemieden werden.

Der Rat der Muslimisch­en Weisen mit Sitz in Abu Dhabi will gegen die französisc­he Satirezeit­ung „Charlie Hebdo“und gegen „alle, die den Islam beleidigen“, juristisch­e Schritte einleiten. Das teilte das Gremium in der Nacht zum Dienstag über eine Twitter-Nachricht der angesehene­n islamische­n wissenscha­ftlichen Institutio­n Al Ashar in Kairo mit. „Charlie Hebdo“hatte die umstritten­en Mohammed-Karikature­n veröffentl­icht.

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