Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)
Gut gewappnet
Unternehmen im Südwesten fühlen sich für einen ungeordneten Brexit vorbereitet – Sorge bereitet noch das drohende Transportchaos
RAVENSBURG - Thomas Baumann ist Geschäftsführer des Zolldienstleisters Gerlach. Vom Zollamt in Appenweier an der deutsch-französischen Grenze aus betreut er mit rund 100 Mitarbeitern Spediteure und andere Unternehmen im Südwesten bei Lieferungen in alle Welt. Als Dienstleister nimmt Gerlach seinen Kunden die ganze Arbeit rund um die Zollabwicklung ab – die derzeit wichtigste Frage: Was bedeutet der Brexit für den Handel?
Vor allem Zeitverlust. „Transportzeiten verlängern sich, die Ware kommt später an und das kostet Geld“, erklärt Baumann. Zwar haben Spediteure aus dem Südwesten einen großen Vorteil, denn die Erfahrungen von der Nicht-EU Grenze zur Schweiz lassen sich leicht auf die neue Grenze Großbritanniens übertragen. Doch die Unsicherheit rund um die Wartezeiten auf beiden Seiten ist derzeit ungleich höher: Wüsste ein Spediteur beispielsweise, dass seine Route nächstes Jahr einen Tag länger dauern würde, könnte er sich vorbereiten – so aber sei die Planung für 2021 äußerst schwierig.
Gerade jetzt, kurz vor dem Brexit, ist das Geschäft von Gerlach Zolldienste lukrativ. Viele Spediteure und Fabrikanten aus Baden-Württemberg benötigen die Expertise von Thomas Baumann. Denn die Hoffnung auf ein Abkommen zwischen den Briten und der EU schwindet. Wenn überhaupt werde es ein „Schmalspur-Abkommen“, sagt Peter Jany, Geschäftsführer für Handelsfragen bei der baden-württembergischen Industrie- und Handelskammer – das komme einem No-Deal gleich. Im vergangenen Jahr wurden Waren im Wert von 10,4 Milliarden Euro aus Baden-Württemberg nach Großbritannien exportiert, laut Wirtschaftsministerium belegt die Insel Platz sechs in der Exportstatistik des Südwestens. Allen voran die Maschinenbauer, Automobilunternehmen sowie Arzneimittelhersteller handeln im großen Stil mit dem Königreich. Das könnte sich bald ändern.
Denn ab Januar warten neben den langen Lieferzeiten außerdem zollrechtliche Anmeldepflichten und Kontrollen, zusätzliche Produktzulassungen, Änderung bei Umweltanforderungen, neue Sozialstandards und fehlende Anerkennung von Berufsabschlüssen. Doch obwohl die Auswirkungen des Ausstiegs also kaum stärker sein könnten, gibt es überraschend wenig Panik in der Südwest-Wirtschaft.
Wirtschaftsexperten gehen davon aus, dass bei einem harten Brexit nur ausgewählte Branchen unter Einfuhrzöllen leiden würden. Beispiel: Die Autoindustrie, die mit zehn Prozent belegt werden könnte. Das nahende Transportchaos wiege da jedoch schwerer auf der Konjunktur, glaubt Thomas Baumann. Bei vielen anderen Gütern könnte der britische Premierminister Boris Johnson wohl auf Zölle verzichten und keine neuen Handelsbarrieren aufbauen, sagt
Thomas Münzer, Geschäftsführer des Wirtschaftsverbandes Industrieller Unternehmer (wvib). „Damit schaden sich die Briten nur selbst.“
Darauf hofft auch Dormakaba. Mit 16 000 Mitarbeitern ist es ein relevantes Unternehmen wenn es um Türund Sicherheitstechnik geht. Die Schweizer beschäftigen unter anderem rund 500 Mitarbeiter in Villingen-Schwennigen. Genauso viele Menschen arbeiten an elf Standorten in Großbritannien.
Der Türenhersteller bereitet sich schon seit Längerem auf einen NoDeal vor. Der Gefahr von Staus und Wartezeiten an der Grenze begegnete das Unternehmen mit höheren Lagerbeständen in England, „damit können wir im Fall eines ungeregelten Brexits etwaige Probleme bei der Verzollung abfedern“, sagt Unternehmenssprecher
Alexander Wood. Größere Lagerbestände im jeweils anderen Wirtschaftsraum aufbauen – das sei die wichtigste Vorbereitung für viele Unternehmen gewesen, sagt Christoph Münzer vom wvib.
Außerdem hätten viele Geld investiert, um ihre Lieferanten- und Kundenbeziehungen zu überprüfen, berichtet Münzer. Dazu Single-Source-Abhängigkeiten zum Vereinigten Königreich abgebaut und Know-how im Bereich des Handels mit NichtEU-Ländern aufgebaut. Denn bei einem No-Deal fällt Großbritannien in den Status eines Drittstaates – die Regeln für den Handel wären dann ähnlich wie beim Austausch der EU mit Ländern wie Australien oder Israel. „Viele Unternehmen haben eine individuelle Brexit-Strategie entwickelt“, sagt Münzer.
Die Verantwortlichen bei Dormakaba fühlen sich vorbereitet, sorgen sich jedoch um die Entwicklung der britischen Wirtschaft. „Für den Fall, dass der Brexit zu einem Abschwung in Großbritannien führt, gehen wir davon aus, dass uns die Konsequenzen genauso treffen werden wie jedes andere Unternehmen auch“, erklärt Woods.
Es scheint jedoch bisher so, dass die britische Regierung genau diese Unsicherheit für die heimische Konjunktur in Kauf nimmt. Anfang Oktober verkündete Boris Johnson, er könne mit einem ungeordneten Brexit „mehr als leben“. Mit Briefen an rund 200 000 Händler soll die Regierung neue Zoll- und Steuervorschriften dargelegt haben. Sie fordere damit die britischen Unternehmer unvermittelt auf, Vorbereitungen für einen EU-Austritt ohne Abkommen zu treffen, schlussfolgert Peter Jany, Handelsexperte der BWIHK.
Das hätte gerade auf englischer Grenzseite heftige Folgen, warnt beispielsweise der britische Spediteursverband Logistic UK. Ein Großteil der Unternehmen sei nicht auf die neue Grenzbürokratie vorbereitet. Ein Szenario, das vom britischen Staatsminister Michael Grove präsentiert wurde, sagt voraus, dass im Januar in der Region Kent Staus mit rund 7000 Transporter und zwei Tagen Verzögerung entstehen könnten. Grove ist im Kabinett für die No-Deal-Vorbereitung zuständig.
Während also noch verhandelt wird, hat die Hochland Käserei aus Heimenkirch im Allgäu bereits vor zwei Jahren ein Projekt-Team zur Planung von verschiedenen Brexit-Szenarien zusammengestellt. „In diese Vorbereitung sind bis heute Hunderte Arbeitsstunden geflossen“, sagt Volker Brütting, Geschäftsführer von Hochland.
Der Export nach Großbritannien macht unter zwei Prozent der Produktionsmenge Hochlands aus. Mittelfristig wird dieser Anteil vermutlich von britischen Herstellern übernommen, „da diese günstiger anbieten können“, erklärt Brütting. Der Milchmarkt an sich, sei stärker betroffen. Durch einen harten Brexit könnten zwei Milliarden Liter Milch, die derzeit in Form von Milchprodukten jährlich auf die Insel transportiert werden, in Europa verbleiben – das führe zu Turbulenzen am Milchmarkt, sagt Brütting.
Der Geschäftsführer sieht jedoch auch Chancen für EU-Käsereien. Falls britische Milchprodukte nicht mehr so leicht in die EU gelangen, würden klassische Käseprodukte der Insel in Zukunft wohl direkt in Europa produziert werden.
Auch das Traditionsunternehmen Aesculap handelt mit Großbritannien – bezieht von dort Rohkomponenten für Prothesen und elektronische Bauteile. Gleichzeitig verkaufen die Tuttlinger Implantate, medizinische Scheren und Skalpelle ins Königreich. „90 Prozent unserer Produkte sind medizinisch, also auch bei der Auslieferung an Nicht-EU-Länder zollfrei“, erklärt Bernd Seemann. „Der Brexit betrifft alle Medizintechnik-Unternehmen ein bisschen, aber keinen richtig heftig.“Seemann ist verantwortlich für den Auslandshandel bei Aesculap, ihn treiben wenn überhaupt die logistischen Fragen noch kleine Sorgenfalten in die Stirn. Wobei auch hier Aesculap Vorteile hat, „das Volumen unserer Transporte ist relativ gering.“
Mit größeren Lagerkapazitäten für ihre britischen Importe im Rücken, blickt Aesculap also recht entspannt Richtung 2021. Obwohl keine Panik ausbricht, solle aber kein falscher Eindruck entstehen, warnt Seemann. „In Zeiten größerer wirtschaftlicher Unsicherheiten, insbesondere im Zusammenhang mit der Pandemie, benötigen Unternehmen Planungssicherheit“Ein harter Brexit sei trotz aller Vorbereitungen also ein schlechtes Zeichen.