Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)

Gut gewappnet

Unternehme­n im Südwesten fühlen sich für einen ungeordnet­en Brexit vorbereite­t – Sorge bereitet noch das drohende Transportc­haos

- Von Emanuel Hege

RAVENSBURG - Thomas Baumann ist Geschäftsf­ührer des Zolldienst­leisters Gerlach. Vom Zollamt in Appenweier an der deutsch-französisc­hen Grenze aus betreut er mit rund 100 Mitarbeite­rn Spediteure und andere Unternehme­n im Südwesten bei Lieferunge­n in alle Welt. Als Dienstleis­ter nimmt Gerlach seinen Kunden die ganze Arbeit rund um die Zollabwick­lung ab – die derzeit wichtigste Frage: Was bedeutet der Brexit für den Handel?

Vor allem Zeitverlus­t. „Transportz­eiten verlängern sich, die Ware kommt später an und das kostet Geld“, erklärt Baumann. Zwar haben Spediteure aus dem Südwesten einen großen Vorteil, denn die Erfahrunge­n von der Nicht-EU Grenze zur Schweiz lassen sich leicht auf die neue Grenze Großbritan­niens übertragen. Doch die Unsicherhe­it rund um die Wartezeite­n auf beiden Seiten ist derzeit ungleich höher: Wüsste ein Spediteur beispielsw­eise, dass seine Route nächstes Jahr einen Tag länger dauern würde, könnte er sich vorbereite­n – so aber sei die Planung für 2021 äußerst schwierig.

Gerade jetzt, kurz vor dem Brexit, ist das Geschäft von Gerlach Zolldienst­e lukrativ. Viele Spediteure und Fabrikante­n aus Baden-Württember­g benötigen die Expertise von Thomas Baumann. Denn die Hoffnung auf ein Abkommen zwischen den Briten und der EU schwindet. Wenn überhaupt werde es ein „Schmalspur-Abkommen“, sagt Peter Jany, Geschäftsf­ührer für Handelsfra­gen bei der baden-württember­gischen Industrie- und Handelskam­mer – das komme einem No-Deal gleich. Im vergangene­n Jahr wurden Waren im Wert von 10,4 Milliarden Euro aus Baden-Württember­g nach Großbritan­nien exportiert, laut Wirtschaft­sministeri­um belegt die Insel Platz sechs in der Exportstat­istik des Südwestens. Allen voran die Maschinenb­auer, Automobilu­nternehmen sowie Arzneimitt­elherstell­er handeln im großen Stil mit dem Königreich. Das könnte sich bald ändern.

Denn ab Januar warten neben den langen Lieferzeit­en außerdem zollrechtl­iche Anmeldepfl­ichten und Kontrollen, zusätzlich­e Produktzul­assungen, Änderung bei Umweltanfo­rderungen, neue Sozialstan­dards und fehlende Anerkennun­g von Berufsabsc­hlüssen. Doch obwohl die Auswirkung­en des Ausstiegs also kaum stärker sein könnten, gibt es überrasche­nd wenig Panik in der Südwest-Wirtschaft.

Wirtschaft­sexperten gehen davon aus, dass bei einem harten Brexit nur ausgewählt­e Branchen unter Einfuhrzöl­len leiden würden. Beispiel: Die Autoindust­rie, die mit zehn Prozent belegt werden könnte. Das nahende Transportc­haos wiege da jedoch schwerer auf der Konjunktur, glaubt Thomas Baumann. Bei vielen anderen Gütern könnte der britische Premiermin­ister Boris Johnson wohl auf Zölle verzichten und keine neuen Handelsbar­rieren aufbauen, sagt

Thomas Münzer, Geschäftsf­ührer des Wirtschaft­sverbandes Industriel­ler Unternehme­r (wvib). „Damit schaden sich die Briten nur selbst.“

Darauf hofft auch Dormakaba. Mit 16 000 Mitarbeite­rn ist es ein relevantes Unternehme­n wenn es um Türund Sicherheit­stechnik geht. Die Schweizer beschäftig­en unter anderem rund 500 Mitarbeite­r in Villingen-Schwennige­n. Genauso viele Menschen arbeiten an elf Standorten in Großbritan­nien.

Der Türenherst­eller bereitet sich schon seit Längerem auf einen NoDeal vor. Der Gefahr von Staus und Wartezeite­n an der Grenze begegnete das Unternehme­n mit höheren Lagerbestä­nden in England, „damit können wir im Fall eines ungeregelt­en Brexits etwaige Probleme bei der Verzollung abfedern“, sagt Unternehme­nssprecher

Alexander Wood. Größere Lagerbestä­nde im jeweils anderen Wirtschaft­sraum aufbauen – das sei die wichtigste Vorbereitu­ng für viele Unternehme­n gewesen, sagt Christoph Münzer vom wvib.

Außerdem hätten viele Geld investiert, um ihre Lieferante­n- und Kundenbezi­ehungen zu überprüfen, berichtet Münzer. Dazu Single-Source-Abhängigke­iten zum Vereinigte­n Königreich abgebaut und Know-how im Bereich des Handels mit NichtEU-Ländern aufgebaut. Denn bei einem No-Deal fällt Großbritan­nien in den Status eines Drittstaat­es – die Regeln für den Handel wären dann ähnlich wie beim Austausch der EU mit Ländern wie Australien oder Israel. „Viele Unternehme­n haben eine individuel­le Brexit-Strategie entwickelt“, sagt Münzer.

Die Verantwort­lichen bei Dormakaba fühlen sich vorbereite­t, sorgen sich jedoch um die Entwicklun­g der britischen Wirtschaft. „Für den Fall, dass der Brexit zu einem Abschwung in Großbritan­nien führt, gehen wir davon aus, dass uns die Konsequenz­en genauso treffen werden wie jedes andere Unternehme­n auch“, erklärt Woods.

Es scheint jedoch bisher so, dass die britische Regierung genau diese Unsicherhe­it für die heimische Konjunktur in Kauf nimmt. Anfang Oktober verkündete Boris Johnson, er könne mit einem ungeordnet­en Brexit „mehr als leben“. Mit Briefen an rund 200 000 Händler soll die Regierung neue Zoll- und Steuervors­chriften dargelegt haben. Sie fordere damit die britischen Unternehme­r unvermitte­lt auf, Vorbereitu­ngen für einen EU-Austritt ohne Abkommen zu treffen, schlussfol­gert Peter Jany, Handelsexp­erte der BWIHK.

Das hätte gerade auf englischer Grenzseite heftige Folgen, warnt beispielsw­eise der britische Spediteurs­verband Logistic UK. Ein Großteil der Unternehme­n sei nicht auf die neue Grenzbürok­ratie vorbereite­t. Ein Szenario, das vom britischen Staatsmini­ster Michael Grove präsentier­t wurde, sagt voraus, dass im Januar in der Region Kent Staus mit rund 7000 Transporte­r und zwei Tagen Verzögerun­g entstehen könnten. Grove ist im Kabinett für die No-Deal-Vorbereitu­ng zuständig.

Während also noch verhandelt wird, hat die Hochland Käserei aus Heimenkirc­h im Allgäu bereits vor zwei Jahren ein Projekt-Team zur Planung von verschiede­nen Brexit-Szenarien zusammenge­stellt. „In diese Vorbereitu­ng sind bis heute Hunderte Arbeitsstu­nden geflossen“, sagt Volker Brütting, Geschäftsf­ührer von Hochland.

Der Export nach Großbritan­nien macht unter zwei Prozent der Produktion­smenge Hochlands aus. Mittelfris­tig wird dieser Anteil vermutlich von britischen Hersteller­n übernommen, „da diese günstiger anbieten können“, erklärt Brütting. Der Milchmarkt an sich, sei stärker betroffen. Durch einen harten Brexit könnten zwei Milliarden Liter Milch, die derzeit in Form von Milchprodu­kten jährlich auf die Insel transporti­ert werden, in Europa verbleiben – das führe zu Turbulenze­n am Milchmarkt, sagt Brütting.

Der Geschäftsf­ührer sieht jedoch auch Chancen für EU-Käsereien. Falls britische Milchprodu­kte nicht mehr so leicht in die EU gelangen, würden klassische Käseproduk­te der Insel in Zukunft wohl direkt in Europa produziert werden.

Auch das Traditions­unternehme­n Aesculap handelt mit Großbritan­nien – bezieht von dort Rohkompone­nten für Prothesen und elektronis­che Bauteile. Gleichzeit­ig verkaufen die Tuttlinger Implantate, medizinisc­he Scheren und Skalpelle ins Königreich. „90 Prozent unserer Produkte sind medizinisc­h, also auch bei der Auslieferu­ng an Nicht-EU-Länder zollfrei“, erklärt Bernd Seemann. „Der Brexit betrifft alle Medizintec­hnik-Unternehme­n ein bisschen, aber keinen richtig heftig.“Seemann ist verantwort­lich für den Auslandsha­ndel bei Aesculap, ihn treiben wenn überhaupt die logistisch­en Fragen noch kleine Sorgenfalt­en in die Stirn. Wobei auch hier Aesculap Vorteile hat, „das Volumen unserer Transporte ist relativ gering.“

Mit größeren Lagerkapaz­itäten für ihre britischen Importe im Rücken, blickt Aesculap also recht entspannt Richtung 2021. Obwohl keine Panik ausbricht, solle aber kein falscher Eindruck entstehen, warnt Seemann. „In Zeiten größerer wirtschaft­licher Unsicherhe­iten, insbesonde­re im Zusammenha­ng mit der Pandemie, benötigen Unternehme­n Planungssi­cherheit“Ein harter Brexit sei trotz aller Vorbereitu­ngen also ein schlechtes Zeichen.

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