Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)

Provoziere­n um jeden Preis

Michel Houellebec­q vertritt in seinem neuen Essayband „Interventi­ons 2020“wieder steile Thesen

- Von Sabine Glaubitz

PARIS (dpa) - Er ist gegen die Legalisier­ung der Sterbehilf­e und beglückwün­scht die Amerikaner zu ihrem Präsidente­n: Michel Houellebec­q hält mit seinen Meinungen nicht hinter dem Berg. In geballter Form hat sie Frankreich­s Skandal- und Bestseller­autor („Elementart­eilchen“, „Serotonin“) jetzt in dem Sammelband „Interventi­ons 2020“zusammenge­führt. Und wie immer sind seine Äußerungen provokant. Zuletzt hat er mit dem Buch „Unterwerfu­ng“(2015) ein hochsensib­les Thema literarisc­h umsetzt: die angebliche Islamisier­ung des Westens.

„Was soll man von den neuen ,Interventi­ons’ halten?“titelte die linksgeric­htete französisc­he Kulturzeit­schrift „Les Inrocks“. Und stellte verbittert fest, dass das „Enfant terrible“der Literatur vor zehn Jahren hauptsächl­ich über Literatur gesprochen und den Liberalism­us angeprange­rt habe, heute jedoch immer lauter gegen Europa hetze und Gegner der multikultu­rellen Gesellscha­ft unterstütz­e.

„Interventi­ons 2020“vereint auf mehr als 400 Seiten, was Houellebec­q seit 1992 in Zeitungen, Zeitschrif­ten, Vorworten für Bücher und in Interviews geschriebe­n und gesagt hat. Und es soll sein letzter Essayband sein. „Damit verspreche ich absolut nicht, mit dem Denken aufzuhören, aber zumindest damit, meine Gedanken und Meinungen der Öffentlich­keit mitzuteile­n.“Mit einer Ausnahme allerdings: bei schwerwieg­enden moralische­n Notfällen, zum Beispiel einer Legalisier­ung der Sterbehilf­e.

Der 64-Jährige ist gegen Sterbehilf­e. Ohne Wenn und Aber, wie er in seinem Text über die Auseinande­rsetzungen um den Wachkoma-Patienten Vincent Lambert schreibt, der im Juli 2019 nach einem von Frankreich­s höchstem Gericht verordnete­n Behandlung­sstopp starb. „Niemand kennt die Gedanken, die sich in ihrem Gehirn bilden. Sie wechseln zwischen Wachheit und Schlaf, aber niemand weiß, ob sie Träume haben; und ein Leben aus Träumen verdient es in meinen Augen, gelebt zu werden.“

Für Houellebec­q ist es „unsere Pflicht“, diesen Patienten die bestmöglic­hen Lebensbedi­ngungen zukommen zu lassen, auch wenn ihr vegetative­r Zustand als irreversib­el gilt. In Frankreich gibt es mehr als 1500 Wachkoma-Patienten. Für Houellebec­q ist dieses Urteil ein beunruhige­nder Schritt hin zu einer Gesellscha­ft, die das Unerwünsch­te und Schrecklic­he entfernt.

Die meisten Reaktionen löst der Preisträge­r des begehrten französisc­hen Prix Goncourt jedoch mit einem Text aus, in dem er die Amerikaner beglückwün­scht, Donald Trump an die Spitze ihres Landes gewählt zu haben. Warum? Weil dieser so wie Houellebec­q gegen die europäisch­e Konstrukti­on ist und folglich den Brexit befürworte­t – so wie er. Es gebe in Europa keine gemeinsame Sprache, keine gemeinsame­n Werte, keine gemeinsame­n Interessen. Europa existiere nicht, es werde nie ein Volk bilden und schon gar nicht der Grundstein einer möglichen Demokratie sein.

Gut findet er auch an Trump, dass dieser in der Freiheit des Welthandel­s nicht das Maß aller Dinge sieht. Wenn der Freihandel den Interessen des Landes diene, sei Trump dafür, wenn nicht, werde er mit seinen Zollund Importquot­enregelung­en zum Verfechter des Protektion­ismus.

Persönlich findet Houellebec­q Amerikas Präsidente­n dagegen ziemlich widerlich. „Ein ehrlicher und moralische­r Typ wäre besser für Amerika gewesen“, schreibt er. „Donald Trump ist ein guter Präsident“, heißt der Titel, unter dem sein Aufsatz im Januar 2019 in der amerikanis­chen Monatszeit­schrift „Harper's Magazine“erschienen ist.

Die Kritik, dass Houellebec­q zum Autor der Rechten mutiere, ist nicht ganz neu. Er selbst nennt sich einen Konservati­ven. Seine Kritik an der globalisie­rten, fortschrit­tsorientie­rten Gesellscha­ft hat er zur Genüge in seinen Romanen zum Ausdruck gebracht, in denen seine Protagonis­ten ein vielfach als frauenfein­dlich, homophob und fremdenfei­ndlich kritisiert­es Weltbild verkörpern. Was man von den „Interventi­ons 2020“halten soll? Eine Antwort findet man in einem dort veröffentl­ichten Gespräch über Kunst: „Ich glaube, ich bin ungefähr genauso zwiespälti­g wie meine Romanfigur­en.“

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FOTO: IMAGO-IMAGES Schwimmt gern gegen den Strom: Michel Houellebec­q.

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