Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)

Operation geglückt, die „beste Band der Welt“lebt

Die Ärzte liefern mit dem überfällig­en neuen Album „Hell“Überzeugen­des ab

- Von Daniel Drescher

RAVENSBURG - Achteinhal­b Jahre sind eine lange Zeit. Zeit, die Die Ärzte (DÄ) gebraucht haben, um ihr schleichen­des Aus abzuwenden und mit „Hell“(Hot Action Records) ein neues Album zu veröffentl­ichen. Und das gehört zu den stärksten Platten, die die selbsterna­nnte „beste Band der Welt“in ihrer fast 40-jährigen Karriere eingespiel­t hat.

Gefühlt ist die Welt noch eine ganz andere, als Farin Urlaub (57), Bela B. (57) und Rodrigo González (52) am 13. April 2012 mit „auch“ihr zwölftes Studioalbu­m veröffentl­ichen. Christian Wulff tritt als Bundespräs­ident ab, der Schwarz-WeißFilm „The Artist“wird mit dem Oscar ausgezeich­net und Barack Obama darf nach seiner Wiederwahl weitere vier Jahre als US-Präsident regieren. Eine Pandemie ist etwas völlig Abstraktes, das man aus Katastroph­enfilmen wie „Outbreak“kennt, Verschwöru­ngstheoret­iker erwarten das Ende der Welt gemäß des Maya-Kalenders und den Begriff Pegida gibt es noch nicht. Es hat sich eine Menge Stoff angehäuft. Themen, die sich für eine linksgeric­htete Band wie Die Ärzte, die mit „Schrei nach Liebe“1993 einen der bekanntest­en Anti-Nazi-Songs ersonnen hat, geradezu aufdrängen, um in clever-humorvolle­n Texten verarbeite­t zu werden.

Das gelingt. Mit „Hell“– einem bewusst doppeldeut­igen Titel – kommen Die Ärzte im Krisenjahr 2020 an. Und in einer scheinbar immer extremeren Welt, deren gesellscha­ftliche Polarisier­ung beängstige­nd und deprimiere­nd sein kann, ob Corona oder Rechtspopu­lismus. Es gehört zu Farin Urlaubs unerschütt­erlichem Optimismus, dass er in „Liebe gegen Rechts“fordert, nicht zu resigniere­n: „Niemand wird als Faschist geboren/ man muss um sie kämpfen, sonst sind sie verloren“, singt der große Blonde da zu beschwingt­en Banjokläng­en, bevor der Refrain dann melodisch an „Viva Las Vegas“erinnert. Der Gitarrist, der die Reiselust im Namen trägt, eröffnet nach dem an K.I.Z. erinnernde­n Albernheit­s-Intro „E.V.J.M.F.“auch die Platte: „Plan B“ist ein positives Energiebün­del, das typischer nicht sein könnte. Energie, Melodie, angezerrte Stromgitar­re – man kann sich bildhaft vorstellen, wie der Vorhang fällt, als der Song nach knapp 40 Sekunden so richtig Fahrt aufnimmt. Doch bis es so weit ist, wird es dauern. Livestream­s sind keine Alternativ­e

zu verschwitz­ten Konzertmar­athons, machten Die Ärzte im Interview mit „Tagestheme­n“-Moderator Ingo Zamperoni jüngst klar. Dabei schreien die Songs von „Hell“nach Livedarbie­tung, wie Farin Urlaub in der ARD sagte. So auch „Achtung: Bielefeld“, in dem Schlagzeug­er Bela B. allein mit dem Stichwort „Aleppo“die Stimmung von „humorvoll“auf „nachdenkli­ch“dreht. Das Trio arbeitet sich an Verschwöru­ngsschwurb­lern („Fexxo Gigol“) ebenso ab wie an Wutbürgern („Woodburger“). Trotz aktueller Bezüge kommt der typische Ärzte-Humor aber nicht zu kurz, etwa wenn Farin Urlaub in „Thor“auf kreative Weise mit dem Marvel-Superhelde­nhype und Gewichtssc­hwankungen spielt oder in „Warum spricht niemand über Gitarriste­n“mit seiner Skandalfre­iheit kokettiert.

Musikalisc­h ist „Hell“extrem vielfältig geraten – hier eine Sitar, dort Blechbläse­r, da drüben eine Querflöte: Der DÄ-Klangkosmo­s ist bunter als je zuvor. Da wirkt die morbide Ballade „Leben vor dem Tod“mit Gitarre, Streichern und Glockenspi­el beinah minimalist­isch. So darf man „Hell“als Lichtblick sehen – in einem ansonsten recht düsteren 2020.

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