Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)
Pflegefamilien händeringend gesucht
Wenn die Probleme zu groß werden, brauchen die Kinder ein neues Zuhause
ALLGÄU - „Es ist nicht immer leicht, aber ich würde mich jederzeit wieder dafür entscheiden“, sagt Angelika Harscher. Die Kemptenerin und ihr Mann nehmen seit 28 Jahren regelmäßig Pflegekinder auf. Insgesamt waren es schon über 30 mit teils dramatischen Schicksalen, die von Suchtproblemen bis zu Missbrauch reichen. Doch Menschen wie die Harschers gibt es im Allgäu zu wenige. Teilweise werden händeringend Pflegefamilien gesucht.
„Wir können den Bedarf in Kaufbeuren nicht mit Familien aus dem Stadtgebiet decken“, sagt Werner Maurer, stellvertretender Leiter des Jugendamts. 40 Kinder leben derzeit in Kaufbeuren vollzeit in Pflegefamilien. „Wir hätten gerade niemanden in petto, falls wir ein weiteres Kind unterbringen müssten“, sagt er. Auch in Kempten ist man immer auf der Suche. „Der Bedarf schwankt, mal gibt es genug Pflegefamilien, mal fehlen aber auch helfende Hände“, sagt Jugendamtsleiterin Kerstin Engelhaupt.
Zu wenige Pflegefamilien sind laut Maurer ein generelles Problem der Städte, auf dem Land sei die Lage besser. Deshalb helfen sich die Allgäuer Ämter untereinander aus. Maurer kann nur mutmaßen, warum die Situation in den Städten angespannter ist: „Auf dem Land ist die Rollenverteilung oft noch eher traditionell, sodass die Familien mehr Zeit für Pflegekinder haben.“„Es gibt ein Stadt-Land-Gefälle“, sagt auch Christina Tzschirner vom Pflegekinderdienst des Landkreises Unterallgäu. Dort wohnen etwa 60 Kinder in Pflegefamilien. „Wir sind in einer glücklichen Lage, bei uns gibt es relativ viele Ehepaare und Einzelpersonen, die Pflegekinder aufnehmen.“
Wenn Kinder ihre Familien verlassen müssen, kann das viele Gründe haben. Meist seien die Eltern überfordert, sagt Brigitte Klöpf, Sprecherin des Landkreises Oberallgäu, wo 105 Betroffene in Pflegefamilien betreut werden. „Es liegen meist mehrere Faktoren vor, die sich teilweise gegenseitig verstärken.“Alkohol, Drogen- oder Spielsucht könnten genauso eine Rolle spielen wie psychische Erkrankungen, Gewalterfahrungen oder ein fehlendes soziales Netzwerk.
„Wenn Gefahr im Verzug ist, nehmen wir die Kinder sofort in Obhut“, sagt die Unterallgäuer Jugendamtschefin Christine Keller. Dann werden sie entweder zu sogenannten Bereitschaftspflegeeltern oder in stationäre Jugendhilfeeinrichtungen gebracht. Häufig wird aus dieser Situation heraus nach einer Pflegefamilie gesucht. „In den ersten zwei Jahren ist oft noch nicht klar, ob ein Kind in der Pflegefamilie bleibt oder zu seinen Eltern zurückkann“, sagt Maurer. Ziel sei immer, eine langfristige Perspektive für das Kind zu schaffen.
Derzeit ist die Situation für manche Familien besonders schwierig: „Seit Beginn der Corona-Pandemie hat sich die Zahl der Meldungen von Kindeswohlgefährdungen merklich gesteigert“, sagt Brigitte Klöpf zur Lage im Oberallgäu. In Kaufbeuren indes sind die Gefährdungsmeldungen leicht zurückgegangen – was laut Maurer daran liegen könnte, dass die Schulen und Kindergärten während der Pandemie längere Zeit geschlossen waren. Diese meldeten häufig, wenn in einer Familie etwas nicht stimmt.
„Die Pandemie hat viele Familien belastet“, resümiert Christine Keller. Umso wichtiger ist es jetzt, dass sich Pflegeeltern finden. Wer Interesse daran hat, ein Kind aufzunehmen, kann sich bei den Städten und Landkreisen melden. Wichtig ist laut Maurer ein erzieherisches Gespür und Verständnis für die besondere Situation der Kinder. „Man muss außerdem bereit sein, mit den leiblichen Eltern zu kooperieren und Besuche zuzulassen.“
Das weiß auch Angelika Harscher. „Für manche Mütter bin ich am Anfang das Feindbild, das ändert sich aber meist mit der Zeit“, sagt sie. Das erste Kind, das sie vor 28 Jahren aufgenommen hat, war damals zweieinhalb. Heute lebt es in der Nachbarschaft und kommt regelmäßig vorbei. Harscher scheut sich aber auch nicht, Jugendliche zu betreuen: „Es ist schön, zu sehen, wie sie älter werden und ihr Leben in den Griff bekommen.“