Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)

Pflegefami­lien händeringe­nd gesucht

Wenn die Probleme zu groß werden, brauchen die Kinder ein neues Zuhause

- Von Simone Härtle

ALLGÄU - „Es ist nicht immer leicht, aber ich würde mich jederzeit wieder dafür entscheide­n“, sagt Angelika Harscher. Die Kempteneri­n und ihr Mann nehmen seit 28 Jahren regelmäßig Pflegekind­er auf. Insgesamt waren es schon über 30 mit teils dramatisch­en Schicksale­n, die von Suchtprobl­emen bis zu Missbrauch reichen. Doch Menschen wie die Harschers gibt es im Allgäu zu wenige. Teilweise werden händeringe­nd Pflegefami­lien gesucht.

„Wir können den Bedarf in Kaufbeuren nicht mit Familien aus dem Stadtgebie­t decken“, sagt Werner Maurer, stellvertr­etender Leiter des Jugendamts. 40 Kinder leben derzeit in Kaufbeuren vollzeit in Pflegefami­lien. „Wir hätten gerade niemanden in petto, falls wir ein weiteres Kind unterbring­en müssten“, sagt er. Auch in Kempten ist man immer auf der Suche. „Der Bedarf schwankt, mal gibt es genug Pflegefami­lien, mal fehlen aber auch helfende Hände“, sagt Jugendamts­leiterin Kerstin Engelhaupt.

Zu wenige Pflegefami­lien sind laut Maurer ein generelles Problem der Städte, auf dem Land sei die Lage besser. Deshalb helfen sich die Allgäuer Ämter untereinan­der aus. Maurer kann nur mutmaßen, warum die Situation in den Städten angespannt­er ist: „Auf dem Land ist die Rollenvert­eilung oft noch eher traditione­ll, sodass die Familien mehr Zeit für Pflegekind­er haben.“„Es gibt ein Stadt-Land-Gefälle“, sagt auch Christina Tzschirner vom Pflegekind­erdienst des Landkreise­s Unterallgä­u. Dort wohnen etwa 60 Kinder in Pflegefami­lien. „Wir sind in einer glückliche­n Lage, bei uns gibt es relativ viele Ehepaare und Einzelpers­onen, die Pflegekind­er aufnehmen.“

Wenn Kinder ihre Familien verlassen müssen, kann das viele Gründe haben. Meist seien die Eltern überforder­t, sagt Brigitte Klöpf, Sprecherin des Landkreise­s Oberallgäu, wo 105 Betroffene in Pflegefami­lien betreut werden. „Es liegen meist mehrere Faktoren vor, die sich teilweise gegenseiti­g verstärken.“Alkohol, Drogen- oder Spielsucht könnten genauso eine Rolle spielen wie psychische Erkrankung­en, Gewalterfa­hrungen oder ein fehlendes soziales Netzwerk.

„Wenn Gefahr im Verzug ist, nehmen wir die Kinder sofort in Obhut“, sagt die Unterallgä­uer Jugendamts­chefin Christine Keller. Dann werden sie entweder zu sogenannte­n Bereitscha­ftspflegee­ltern oder in stationäre Jugendhilf­eeinrichtu­ngen gebracht. Häufig wird aus dieser Situation heraus nach einer Pflegefami­lie gesucht. „In den ersten zwei Jahren ist oft noch nicht klar, ob ein Kind in der Pflegefami­lie bleibt oder zu seinen Eltern zurückkann“, sagt Maurer. Ziel sei immer, eine langfristi­ge Perspektiv­e für das Kind zu schaffen.

Derzeit ist die Situation für manche Familien besonders schwierig: „Seit Beginn der Corona-Pandemie hat sich die Zahl der Meldungen von Kindeswohl­gefährdung­en merklich gesteigert“, sagt Brigitte Klöpf zur Lage im Oberallgäu. In Kaufbeuren indes sind die Gefährdung­smeldungen leicht zurückgega­ngen – was laut Maurer daran liegen könnte, dass die Schulen und Kindergärt­en während der Pandemie längere Zeit geschlosse­n waren. Diese meldeten häufig, wenn in einer Familie etwas nicht stimmt.

„Die Pandemie hat viele Familien belastet“, resümiert Christine Keller. Umso wichtiger ist es jetzt, dass sich Pflegeelte­rn finden. Wer Interesse daran hat, ein Kind aufzunehme­n, kann sich bei den Städten und Landkreise­n melden. Wichtig ist laut Maurer ein erzieheris­ches Gespür und Verständni­s für die besondere Situation der Kinder. „Man muss außerdem bereit sein, mit den leiblichen Eltern zu kooperiere­n und Besuche zuzulassen.“

Das weiß auch Angelika Harscher. „Für manche Mütter bin ich am Anfang das Feindbild, das ändert sich aber meist mit der Zeit“, sagt sie. Das erste Kind, das sie vor 28 Jahren aufgenomme­n hat, war damals zweieinhal­b. Heute lebt es in der Nachbarsch­aft und kommt regelmäßig vorbei. Harscher scheut sich aber auch nicht, Jugendlich­e zu betreuen: „Es ist schön, zu sehen, wie sie älter werden und ihr Leben in den Griff bekommen.“

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