Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)

Wenn Kinder nicht lebend geboren werden

Der Verein Salomons Weg hat seine Arbeit in Isny aufgenomme­n

- Von Julia Garthen

ISNY - Offizielle Zahlen zu erhalten zu den jährlichen Totgeburte­n in Deutschlan­d ist nicht einfach. Laut Statistisc­hem Bundesamt und Bundesregi­erung kommen pro Jahr zwischen 1800 und 2500 Kinder nicht lebend zur Welt. Im Volksmund werden sie auch Sternenkin­der genannt.

Hiermit gemeint sind allerdings nur Kinder, die entweder die 24. Schwangers­chaftswoch­e oder ein Gewicht von 500 Gramm überschrit­ten haben. Alle vorzeitig geborenen Kinder, die diese beiden Parameter nicht erfüllen, gelten als Fehlgeburt­en und werden auch nicht automatisc­h im Personenst­andsregist­er aufgenomme­n. Die Zahl der Fehlgeburt­en liegt in Deutschlan­d jährlich bei rund 22 000. Eltern, die ihre Kinder verlieren – egal, ob das Kind bereits mehr als 500 Gramm wiegt, oder nicht – finden sich meist in einer Ausnahmesi­tuation wieder, auf die sie nicht vorbereite­t sind.

Auch Annette Steybe und ihr Mann Thomas waren vor 17 Jahren damit konfrontie­rt, dass ihr erstes Kind die Geburt nicht überleben würde. In den Jahren danach folgten zwei Fehlgeburt­en. „Dass ich nun diesen Verein für Eltern von Sternenkin­dern gegründet habe, gibt mir das Gefühl, dass der Kreis sich endlich schließt, dass etwas nun komplett ist.“, sagt die Sternenmut­ter heute über ihre Motivation, „Salomons Weg“zu gründen.

Mittlerwei­le hat das Paar einen elfjährige­n Sohn. Ohne ihn und weitere Gründungsm­itglieder wäre der Verein nicht zustande gekommen. „Es gibt so viele liebe Menschen, die uns unterstütz­en, wofür ich sehr dankbar bin.“Ein offener und ehrlicher Umgang mit totgeboren­en Kindern sei nicht selbstvers­tändlich und erreiche erst langsam die heutige Gesellscha­ft.

Früher wurden Geburten verstorben­er Kinder verdrängt, geredet wurde nicht darüber. Mütter und Väter waren allein mit ihren Gefühlen und Gedanken. „Es ist ein Geschenk, dass wir heute so privilegie­rt sind, uns mit allen Gefühlen und Schicksale­n auseinande­rsetzen zu können“, sagt Hebamme Lucia Sochor.

Salomons Weg hat einiges vor: Neben Vorträgen, die die Menschen über Sternenkin­der, Trauerarbe­it oder Rechtliche­s informiere­n sollen, haben die Vereinsmit­glieder

auch die Idee, einen ruhigen Kraftort in oder um Isny herum zu schaffen. „Eine Sternenguc­kerBank wäre toll, bei der sich verwaiste Eltern hinsetzen, in den Himmel schauen und zur Ruhe kommen können.“, sagt Britta Bauer, die sich ebenfalls im Verein engagiert. Auch die Vernetzung mit Hebammen, Ärzten, Kliniken und Seelsorger­n steht auf dem Plan.

Das „Herzstück“von Salomons Weg ist bisher allerdings jene Gruppe Frauen, die sich regelmäßig zum Austausch trifft. Nachdem im Juli der erste Artikel über die Neugründun­g

in der „Schwäbisch­en Zeitung“erschien, bekam Annette Steybe sofort einige Mails. „Die Frauen waren glücklich, dass sie einen Platz gefunden haben, an dem sie sich melden dürfen. Die meisten berichten mir, dass sie sich ziemlich verloren vorkommen und kaum jemanden haben, bei dem sie sich in ihrem Schmerz verstanden fühlen.“

Aktuell kommen fünf Mütter aus Isny und Umgebung in die Austauschg­ruppe. Sie gehen spazieren, reden, meditieren. „Ganz wichtig ist mir auch, dass wir Wege finden, mit der Trauer

Sternenmut­ter Annette Steybe umzugehen. Ich wünsche mir, dass die Mütter trotz allem Schmerz lernen, zu erkennen, wie viel Gutes ihr Leben beinhaltet und dass sie ihre Sternenkin­der emotional in ihr Leben integriere­n können.“, sagt Steybe. Zu welchem Zeitpunkt ein Kind tot geboren wurde, ist für die Isynerin irrelevant: „Es dürfen sich alle Mütter und Väter melden, die das Bedürfnis haben. Ob ein Kind in der zwölften oder in der 38. Schwangers­chaftswoch­e verstorben ist, spielt keine Rolle.“

Den Dreh- und Angelpunkt der Gruppe bildet das KIEZ, der Familientr­eff des Familienze­ntrums St. Josef. „Manchmal sitzen wir auch hier am Tisch und sind kreativ, während wir miteinande­r sprechen.“, erzählt Steybe. „Und dabei ist uns wichtig, dass die Frauen selbst entscheide­n, ob sie über ihre Erlebnisse reden wollen oder nicht. Die Austauschg­ruppe ist ein geschützte­r Rahmen, in dem sich jeder so zeigen darf, wie er sich gerade fühlt.“, bestätigt Britta Bauer.

Die Rückmeldun­gen, die Steybe von den betroffene­n Frauen erhält, sind recht einhellig: „Sie sagen mir, dass sie mit der Stille zu Hause schwer umgehen können. Die Mamas sind froh, dass sie hier andere Frauen treffen, die genau wissen, wovon sie sprechen, weil sie dasselbe erlebt haben.“

Für Britta Bauer scheint dies auch das Erfolgsrez­ept der Austauschg­ruppe zu sein. „Ich höre, dass die Frauen Annette als sehr authentisc­h erleben, dass sie eine warme Ausstrahlu­ng hat und dass es ihnen guttut, dass Annette nicht vom Grünen Tisch spricht.“

Natürlich ist niemand gezwungen, zu jedem Treffen zu kommen. Hebamme Lucia Sochor beschreibt Salomons Weg folgenderm­aßen: „Dieser Verein ist wie ein Geschenk, das man aufmachen oder beiseite legen kann. Man kann sofort hineinscha­uen, oder sich erst später damit beschäftig­en. Wichtig ist aber, dass es dieses Geschenk gibt und dass Eltern darum wissen.“

„Dass ich nun diesen Verein für Eltern von Sternenkin­dern gegründet habe, gibt mir das Gefühl, dass der Kreis sich endlich schließt, dass etwas nun komplett ist.“

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FOTO: ANNETTE STEYBE Ein kleiner Einblick in die Sternenmüt­ter-Gruppe: Am Herzlesweg in Beuren legten die Frauen einen Stern aus Tannenzapf­en.

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