Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)
Überraschender Corona-Effekt: weniger Insolvenzen
Amtsgerichtsdirektor: Politik hat Folgen für Betriebe abgemildert – Krise verschärft im Einzelfall finanzielle Schieflage
RAVENSBURG - Die Angst um den Fortbestand vieler Unternehmen in der Region angesichts der schwierigen Bedingungen in der Corona-Krise war im Frühjahr 2020 groß. Bis zum Herbst hatte das Ravensburger Amtsgericht, das in der Region für Insolvenzverfahren zuständig ist, mit einer Insolvenzwelle gerechnet. Jetzt ist der Herbst da, die Insolvenzwelle aber bisher ausgeblieben. Überraschenderweise verzeichnet das Gericht nicht nur weniger Insolvenzfälle als erwartet, sondern sogar weniger Fälle als im Vorjahr. Entwarnung kann aber noch nicht gegeben werden, vielmehr berichtet Amtsgerichtsdirektor Matthias Grewe von diversen Aufschiebe-Effekten.
Trotz Krise weniger Unternehmensinsolvenzen – wie kann das sein? Amtsgerichtsdirektor Matthias Grewe spricht von mehreren Faktoren, die zu dieser Momentaufnahme führen. Zum einen wurde in der Corona-Krise vorübergehend die Pflicht, Insolvenzantrag zu stellen, ausgesetzt: Wer zahlungsunfähig wurde, musste dies bis Ende September nicht melden. Und wenn ein Unternehmen überschuldet ist, darf es Ende Dezember dagegen ankämpfen, ohne Insolvenzantrag stellen zu müssen. Eine weitere Verlängerung dieser Ausnahmeregelung ist nach Einschätzung Grewes auch noch möglich.
Zum anderen nennt Grewe die staatliche Unterstützung für Unternehmen in der Krise, beispielsweise die Möglichkeit zur Kurzarbeit oder die Beanspruchung von Krediten der staatlichen Förderbank KfW. Die Kredite müssen erst nach Ende der zweijährigen Laufzeit zurückgezahlt werden, bis dahin verschaffen sie dem Darlehensnehmer finanziell Luft. Im Frühjahr hatte man am Ravensburger Amtsgericht damit gerechnet, dass zunächst Unternehmern aus der Gastronomie und dem Hotelgewerbe, dem Messebereich und der schon länger kriselnden Autozulieferindustrie der finanzielle Spielraum ausgeht.
Inzwischen sagt Grewe: „Bezogen auf die Annahmen des Frühjahrs können wir für unser Gericht daher sagen, dass die Auswirkungen für Unternehmensinsolvenzen infolge der Pandemie uns später und nicht in der Heftigkeit erreichen, wie befürchtet. Wenn das das Ziel der Politik war, hat man es erreicht.“Auch der Hauptgeschäftsführer der Industrie
und Handelskammer BodenseeOberschwaben, Peter Jany, argumentiert ähnlich: Überbrückungshilfen sowie die Aussetzung der Insolvenzantragspflicht haben seiner Ansicht nach die Lage entschärft. Aber er erwartet ebenfalls im Laufe des Jahres 2021 einen deutlichen Anstieg der Insolvenzen.
Bei den Insolvenzrechts-Experten, bei denen Unternehmen vorstellig werden, noch bevor sie beim Gericht aktenkundig werden, ist auch noch keine Zunahme der Unternehmensinsolvenzen zu spüren. Matthäus Rösch aus Ravensburg sagt: „Es ist sogar ruhiger als vor Corona.“Rösch erwartet ebenso wie ein weiterer Fachmann im Bereich Insolvenzrecht, Jan van Bruggen aus Friedrichshafen, dass die große Welle dann kommt, wenn die Laufzeit staatlicher Unterstützungs-Maßnahmen ende. „Alle warten gespannt auf das nächste Jahr“, so van Bruggen. In Einzelfällen kann die Krise aber auch schon jetzt Firmen aus der Bahn werfen (siehe Kasten).
Auch Privatleute kann die Krise in die Insolvenz treiben, zum Beispiel, wenn das Gehalt aufgrund von Kurzarbeit geschmälert ist und Kredite nicht mehr bedient werden können. Aber auch in diesem Bereich kommen bei Gericht weniger Fälle an als im Vorjahr. „Das liegt aber nicht an der Pandemie und wir erwarten, dass uns diese Verfahren zeitlich versetzt als Welle erreichen werden“, so Grewe, der auch die Gründe dafür erläutert.
Für Verbraucherinsolvenzen ist demnach eine Reform geplant. Dabei soll die sogenannte Wohlverhaltensperiode bis zu einer Restschuldbefreiung von bislang sechs auf drei Jahre verkürzt werden. „Der Gesetzesentwurf war schon vor Monaten in der Praxisanhörung und wurde unter anderem von uns auch befürwortet“, erklärt Grewe. Eigentlich sollte die Änderung Anfang Oktober in Kraft treten. „Aus Gründen, die wir nicht kennen, ist das aber nicht geschehen und der neue erwartete Termin ist der 1. Januar 2021.“Viele Berater halten laut Grewe bereits fertige Insolvenzanträge bis zum Inkrafttreten der Reform zurück, um ihren Mandanten die günstigere rechtliche Möglichkeit zu sichern. Er wisse aus Gesprächen mit Kanzleien, die diese Anträge vorbereiten, dass dort Verfahren – und vor allem Menschen mit schwierigen Vermögenssituationen – auf das Insolvenzverfahren warten.