Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)
Gute Reise, liebes Urlaubsgeld!
Vielleicht ist jetzt die Zeit gekommen, um ein bisschen Ehrlichkeit in all die Diskussionen zu bringen, die uns im Augenblick so aufwallen lassen. Zum Beispiel die Reisedebatte – gerade in Anbetracht des stetig aber unaufhaltsam heranrückenden Weihnachten. Natürlich ist es eine Tragödie, möglicherweise einmal in hundert Jahren über die Feiertage nicht zu den Schwiegereltern fahren zu können. Und wie all die Menschen, die für gewöhnlich 364 Tage im Jahr Kirchen grundsätzlich meiden, es aushalten sollen, nicht zur Christmette gehen zu dürfen, ist noch gar nicht abzusehen. Fakt ist aber auch, dass in vielen Regionen der Welt in erster Linie nicht die bisweilen ungezogenen Urlauber fehlen, sondern das schöne Geld, welches sie mitbringen. Ganz nach dem Motto herzerfrischend ehrlicher Gastronomen: Wenn ich die Wahl zwischen dem Urlauber und seinem Urlaubsgeld habe, nehme ich zähneknirschend Letzteres!
In Venedig wird diese Haltung allein dadurch spürbar, dass dort in Cafés auch zu pandemiefreien Zeiten ein Preisniveau herrscht, das den Charakter von Lösegeldforderungen durch Freischärler besitzt. Der österreichische Autor Robert Musil schrieb schon vor mehr als einem halben Jahrhundert hellseherisch: „Manche Menschen reisen hauptsächlich in den Urlaub, um Ansichtskarten zu kaufen, obwohl es vernünftiger wäre, sich diese Karten kommen zu lassen.“Ganz im Geiste Musils wäre es also nun an der Zeit, da die Welt Pandemie hat, das Geld ohne den Urlauber um den Globus zu schicken. Das wäre zudem sehr klimafreundlich. (nyf)