Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)
Balletttänzer mit Beton-Oberschenkeln
MÜNCHEN - Er hat an ihn gedacht. Und das an seinem eigenen Ehrentag. Als Franz Beckenbauer, dem Kaiser, der Lichtgestalt des deutschen Fußballs (kleine Fußnote: zumindest als Spieler und Trainer) rund um den 11. September zu seinem 75. Geburtstag gehuldigt wurde, rückte der Jubilar einen anderen in den Vordergrund: Gerd Müller, den „Bomber der Nation“. Beckenbauer sprach: „Ohne ihn wären wir alle und der FC Bayern niemals so groß geworden.“Punkt.
Damit würdigte er einen Freund und Wegbegleiter. Einen, dem er so vieles zu verdanken hat. Einen, der von all dem nichts mehr weiß. Gerd Müller leidet seit zwölf Jahren an Demenz, hat Alzheimer im vorgerückten Stadium. Er verliert sein Gedächtnis, das Vergessen des eigenen Lebens und der Welt um ihn herum ist nicht aufzuhalten. Sein Körper kämpft mit der schweren Erkrankung, will noch nicht aufgeben. Und so wird der legendärste Stürmer dieses Landes am heutigen Dienstag 75 Jahre alt. In völliger Stille. Er wird an seinem Krankenbett lediglich eine Stimme vernehmen: die seiner Frau Uschi. Wie jeden Tag. Wie in all den Jahren. Seit Dezember 2014 lebt ihr Gerd in einem Pflegeheim außerhalb Münchens, seitdem besucht sie ihn – früher tagtäglich, heute so oft es in diesen Zeiten eben möglich ist. Wegen der Corona-Auflagen hatte sie drei Monate Besuchsverbot.
Nun verriet sie, in welchem traurigen Zustand ihr Mann mittlerweile ist. „Der Gerd schläft seinem Ende entgegen“. Er habe „die Augen geschlossen, döst vor sich hin, macht den Mund nur noch selten auf, kriegt pürierte Nahrung. Er ist ruhig und friedlich, muss, glaube ich, auch nicht leiden. Er schläft langsam hinüber.“Müller wird nur noch palliativ behandelt. „Ich hoffe, dass er nicht nachdenken kann über sein Schicksal, über eine Krankheit, die dem Menschen die letzte Würde raubt“, sagte Uschi Müller der „Bild“. Seit 1967 sind die Müllers verheiratet, die Goldene Hochzeit verbrachte man im Pflegeheim. Sie erkennt er noch.
Müllers letzter öffentlicher Auftritt ist sieben Jahre her. Bei einem Award wurde er für sein Lebenswerk geehrt. Die Gratulationen und Würdigungen dieser Woche zu seinem 75. Geburtstag werden ihn nicht erreichen. Der FC Bayern wollte den Mittelstürmer eigentlich mit einem Bühnenprogramm und Installationen im Vereinsmuseum in der Allianz Arena ehren, „um die Bedeutung dieses einzigartigen Menschen für den Verein hervorzuheben“. Geladen zu der Veranstaltung war ein kleiner Kreis samt Wegbegleitern. Doch die Ehrung musste wegen der nun geltenden strikteren Corona-Auflagen kurzfristig abgesagt werden, wie Präsident Herbert Hainer bestätigte. Nun soll sie zu einem späteren Zeitpunkt nachgeholt werden. Die Installation soll dennoch aufgebaut werden und für Publikum zugänglich, wenn wieder möglich.
Bayerns Vorstandsboss KarlHeinz Rummenigge, fünf Jahre Stürmer an Müllers Seite, betonte: „Gerd war der beste Mittelstürmer aller Zeiten, insbesondere im Strafraum, dort war er wie das ,Phantom der Oper‘. Ich habe sehr viel von ihm gelernt.“Uli Hoeneß, heute Ehrenpräsident des Vereins, gewann ab 1970 sämtliche Titel mit – und dank Müller. „Gerd war ein großartiger Spieler, ein großartiger Mannschaftskollege und ist bis heute ein wunderbarer, feiner Mensch. Ich bin sehr stolz, an seiner Seite gespielt zu haben. Wir alle hier beim FC Bayern sind ihm für alle Zeiten unheimlich dankbar.“Denn nur durch Müllers Tore, „durch seine historischen Leistungen ist der FC Bayern zu dem Verein geworden, wie ihn die Welt heute kennt“, so Hoeneß.
Des Bombers Zahlenwerk in aller Kürze: Von 1964 bis 1979 erzielte er in 602 Pflichtspielen 555 Tore für den FC Bayern – mit allen erdenklichen Körperteilen, aus allen erdenklichen Lagen. Er holte 13 Titel mit den Münchnern, gewann von 1974 bis ’76 dreimal hintereinander den Europapokal der Landesmeister. Für die deutsche Nationalmannschaft traf er 68-mal (und das in nur 62 Spielen), wurde 1972 Europa- und zwei Jahre darauf Weltmeister. Der Siegtreffer im WM-Finale 1974 von München gegen die Niederlande war sein wichtigster.
Gerd Müller über das Geheimnis seiner Tore
Der Schleier auf der Erinnerung seines Lebens hat sich in den vergangenen Jahren weiter verdunkelt. Vor wenigen Jahren noch konnte er Besucher, selbst gute Freunde, erkennen, wenn auch oft nur auf den zweiten Blick. Mit seinem Franz, mit dem Uli, mit dem Kalle, mit Paul Breitner oder Jupp Heynckes, allesamt Mitspieler im Bayernoder DFB-Trikot, ging er im Park des Pflegeheims spazieren, man unterhielt sich so gut es ging. So nah und doch so fern. So schön und so schaurig zugleich. „Wir begleiten ihn auf seinem Weg“, erklärte damals Rummenigge, „das sind wir ihm schuldig.“Dieser Weg, die Anbahnung der Krankheit, war kein leichter.
Im Oktober 2014 hatte der FC Bayern Müllers Zustand per Pressemitteilung öffentlich gemacht – im Einverständnis mit seiner Ehefrau und mit Tochter Nicole. Über viele Jahre hatte man an der Säbener Straße und in Müllers Wohnort München-Solln mit dem unter Journalisten offenen Geheimnis gelebt. Sämtliche Reporter hielten sich an die Vereinbarung, die Erkrankung nicht zu thematisieren. Die Bayern-Familie baute einen künstlichen Kokon um ihn herum auf. „Unser Plan lief so perfekt ab, dass Müller das Gefühl hatte, er stünde noch mitten im Leben“, erinnert sich Bayerns Mediendirektor Markus Hörwick. Man ließ dem Bomber seine behütete Umgebung, inmitten seiner Fußballfamilie. „Der Verein ist alles für mich“, hatte er oft betont. Die Prämisse: Eine heile Welt am Anfang einer unheilbaren Krankheit schaffen. Er kam regelmäßig zum Trainingsgelände, gebracht von einem Chauffeur. Er ging in die Sauna, ließ sich massieren, flachste ein wenig mit den JungProfis – und das alles, obwohl er längst nicht mehr den Job als CoTrainer der zweiten Mannschaft unter Hermann Gerland oder Mehmet Scholl ausüben konnte. 1992 hatte Müller die A-Trainerlizenz erworben und arbeitete bis Mitte 2014 als Assistent, gab den ehrfürchtig lauschenden Nachwuchsstürmern Tipps, wie man sich im Strafraum verhält.
Und deshalb wurde er mit dem nötigen Respekt behandelt, als sich die Alzheimererkrankung in seinem Gehirn Bahn brach. Zur Einordnung: Rund 1,6 Millionen Menschen leben aktuell in Deutschland mit Demenz, die meisten von ihnen sind von der Alzheimer-Krankheit betroffen. Und weil man derzeit mit Zahlen und Zuwachsraten vertraut ist: Etwa 900 Neuerkrankungen treten durchschnittlich Tag für Tag auf. Macht pro Jahr mehr als
300 000.
In den 70er- und 80er-Jahren hatte das Idol einer ganzen Generation eine selbstverschuldete Lebenskrise zu meistern. Müller war abgerutscht: Alkoholiker. Nachdem er im März 1979 im Streit aus München zu den Fort Lauderdale Strikers in die US-Operettenliga geflüchtet war, vereinsamte er und wurde in seinem Restaurant „The Ambry“, einem deutsch-angehauchten Steakhaus, sein bester Gast. Sein Freund Uli Hoeneß war es, der nach der Rückkehr der Müllers die Einsamkeit des ehemaligen Mitspielers erkannte und ihn Anfang der 90er-Jahre zum Entzug per Kuraufenthalt zwang. Müller gewann seinen wichtigsten Kampf, wurde trocken. „Nach vier Wochen bin ich aus der Kur gekommen. In so kurzer Zeit, das war schon eine Leistung“, freute sich Müller damals und wusste: „Ohne die Hilfe meiner Freunde hätte ich es wohl nicht geschafft.“Um ihn auf Kurs zu halten, bekam der gelernte Weber 1992 den Job im Trainerstab der Bayern.
Zeit seiner Karriere war Müller, von Tschik Cajkovski, seinem ersten Trainer bei Bayern, liebevoll als „kleines, dickes Müller“bezeichnet, ein stiller Star, schüchtern und bodenständig. All der Trubel und Rummel um seine Person verstörte ihn stets. Der gebürtige Nördlinger, der im Sommer 1964 für die aus heutiger Sicht aberwitzig lächerliche Ablösesumme von 4400 DM zu Bayern wechselte, sagte einmal über das Geheimnis seiner Tore: „I hau’ halt immerzu aufs Tor. Wennst denkst, ist’s scho’ vorbei.“Sein Instinkt, seine Antizipationsfähigkeit, seine Reaktionsgeschwindigkeit und seine Besessenheit machten ihn zum größten Mittelstürmer Deutschlands.
Für Breitner ist Müller „das größte Genie, das ich im Fußball jemals erlebt habe. Er wäre heute Messi, Ronaldo und noch ein paar andere zusammen – und würde es niemals sein wollen“. Beckenbauer meinte: „Wenn Neymar 222 Millionen Euro gekostet hat, dann könnte man beim Gerd noch ein paar Millionen draufpacken.“Auch bei den Menschen, die ihn nie haben live spielen sehen, soll er als Strafraumgenie, als bayerischer Balletttänzer mit Beton-Oberschenkeln in Erinnerung bleiben. Um niemals vergessen zu werden.
„I hau’ halt immerzu aufs Tor. Wennst denkst, ist’s scho’ vorbei.“