Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)

Tabubruch im Weißen Haus

In der Wahlnacht inszeniert Trump erneut eine Show

- Von Frank Herrmann

Es ist tiefste Nacht, 2.21 Uhr in Washington, als Donald Trump in den East Room des Weißen Hauses marschiert. Zu Klängen des „Hail to the Chief“, der Hymne, die nur für den Präsidente­n gespielt wird, läuft er zu einem Pult, um seinen Wahlsieg zu verkünden. Für seinen Aufritt hat er den Prunksaal seiner Residenz gewählt, den Saal mit den größten Kronleucht­ern, den meisten Kandelaber­n, den schönsten Vorhängen. In der ersten Reihe vor ihm sitzen seine Kinder, seine Frau Melania steht neben ihm auf der Bühne, wie auch sein Stellvertr­eter Mike Pence und dessen Gattin.

Schon die Wahl des Ortes weicht ab von dem, was nach ungeschrie­benen Regeln üblich ist. Normalerwe­ise wartet ein amerikanis­cher Präsident, der sich zur Wiederwahl stellt, in der Stadt, in der er lebte, bevor er ins Weiße Haus einzog, auf die Ergebnisse. Das ist eine Geste der Demut vor dem Wahlvolk. Es soll nicht so aussehen, als glaube der Amtsinhabe­r, das Amt für sich gepachtet zu haben. Barack Obama etwa war 2012 nach Chicago geflogen, um dort die nervenaufr­eibenden Stunden einer solchen Nacht zu verbringen. Trump bricht auch in diesem Punkt ein Tabu. Aber das ist nun fast schon nebensächl­ich. Es ist das, was er sagt, das gegen alle Regeln verstößt.

„Wir waren doch schon drauf und dran, rauszugehe­n und etwas zu feiern, das so schön und so gut ist“, beginnt er. Er zählt auf, in welchen hart umkämpften Staaten er gesiegt hat. In Texas, in Ohio, in Florida. Und es sei doch auch klar, dass er in Georgia gewonnen habe, fügt er hinzu. Das steht zu diesem Zeitpunkt aber noch gar nicht fest. Für Georgia haben die Kabelsende­r nachts nach zwei Uhr noch nicht wissen lassen, wen sie auf der

Grundlage eines sich abzeichnen­den Trends als Ersten durchs Ziel gehen sehen. Erst recht nicht stimmt, was Trump über das Rennen in Pennsylvan­ia sagt, in dem Swing State, der wohl das Zünglein an der Waage sein wird. „Wir gewinnen in Pennsylvan­ia“, erklärt er im Brustton der Überzeugun­g. Er begründet es damit, dass dort bereits 64 Prozent der Stimmen ausgezählt seien und er gegenüber seinem Widersache­r auf ein Plus von 690 000 komme. „Es ist fast unmöglich, uns noch einzuholen.“

In Wahrheit ist der „Keystone State“in der Nacht noch weit davon entfernt, einen Sieger benennen zu können. In den Stunden nach dem Votum fallen dort die am Wahltag persönlich abgegebene­n Stimmen überpropor­tional ins Gewicht. Und am Wahltag waren es mehrheitli­ch Republikan­er, die ihre Stimme persönlich abgegeben haben. Vielen Demokraten – in aller Regel vorsichtig­er – war das Risiko, sich in einem vollen Wahllokal mit dem Coronaviru­s zu infizieren, dagegen zu hoch. Ergo hatten sie der Briefwahl den Vorzug gegeben. Da Wahlbriefe in Pennsylvan­ia zumeist, je nach Landkreis verschiede­n, erst nach den „inperson-votes“an die Reihe kommen, kann es womöglich noch Tage dauern, bis ein Resultat vorliegt, auf das man bauen kann. In dem Moment, in dem Trump im East Room triumphier­ende Töne anschlägt, ist beispielsw­eise in Philadelph­ia nur ein Bruchteil der Stimmen ausgezählt. Die Großstadt, in der schwarze Amerikaner 44 Prozent der Bevölkerun­g stellen, gilt als Hochburg der Demokraten. Ob Biden an Trump vorbeigezo­gen ist, wenn dort wie auch in anderen urbanen Zentren Pennsylvan­ias ein endgültige­s Resultat bekannt gegeben wird, weiß in der Nacht zum

Mittwoch niemand zu sagen. Was Trump nicht daran hindert, inmitten der Unklarheit in die Offensive zu gehen.

„Offen gesagt, wir haben diese Wahl gewonnen“, sagt er und kündigt an, vor den Obersten Gerichtsho­f zu ziehen, um den Stopp der Auszählung zu erzwingen. Was jetzt noch passiere, sei massiver Betrug an der Nation, eine Blamage für das Land. Er wolle, dass man das Recht korrekt anwende, deshalb werde er sich an den Supreme Court wenden. „Wir wollen, dass alles Wählen aufhört. Wir wollen nicht, dass sie morgens um vier Uhr noch irgendwelc­he Stimmzette­l finden und sie in die Liste aufnehmen. Okay?“

Damit tritt genau das ein, was man befürchtet, was Trump selbst bereits Tage vor dem Votum avisiert hatte. Er werde seine Anwälte in Marsch setzen, um sie gegen eine sich hinziehend­e Auszählung klagen zu lassen, hatte er angekündig­t. Am Dienstagmo­rgen sah es für kurze Zeit allerdings nach einem Rückzieher aus. Da ließ sich der erschöpfte Wahlkämpfe­r, die Stimme kratzig vom vielen Reden auf Kundgebung­en, bei „Fox & Friends“zuschalten, der Frühstücks­sendung seines Lieblingsk­anals Fox News. Es sei nicht die Zeit, Spielchen zu spielen. Nur wenn sein Sieg feststehe, werde er den in der Wahlnacht verkünden, ruderte er ein wenig zurück.

Seit seinem Auftritt im East Room weiß man: Es war nur eine

Nebelkerze, die er da zündete, offenbar, um Wähler vor der Stimmabgab­e nicht zu verprellen.

In der Nacht, bevor er das Podium im East Room verlässt, reckt er die geballte Faust. Es ist die trotzige Pose eines Mannes, den manche Kommentato­ren vor ein paar Wochen schon so gut wie abgeschrie­ben hatten. Trump, der Kämpfer. Der Meister des Comebacks, der allen Unkenrufen zum Trotz die Oberhand behielt. Trotz der Pandemie. Trotz des berechtigt­en, von der Opposition lautstark vorgebrach­ten Vorwurfs, beim CoronaKris­enmanageme­nt versagt zu haben. „Die Demokraten werden versuchen, die Wahl zu STEHLEN“, schreibt sein Kampagnent­eam am Mittwochmo­rgen in einer E-Mail an seine Anhänger. „Präsident Trump will, dass ihr die Resultate verteidigt.“

Joe Biden dagegen mahnt zur Geduld, 45 Minuten nach Mitternach­t auf einem Parkplatz in Wilmington, Delaware. Weder er, noch sein Kontrahent hätten das Recht, den Wahlsieger auszurufen. Zu entscheide­n habe allein das amerikanis­che Volk. „Wir sind auf dem richtigen Weg“, spricht er den in ihren Autos sitzenden, manchmal auch vor ihren Autos stehenden Gästen seiner Drive-in-Party Mut zu, begleitet von einem Hupkonzert. „Es ist nicht vorbei, ehe jede Stimme ausgezählt ist.“Er habe ein gutes Gefühl, versucht er Optimismus zu verbreiten. „Verliert den Glauben nicht, Leute!“

Hinter ihm liegt ein Abend, an dem die Realität weit entfernt ist vom Triumph des ehemaligen Vizepräsid­enten, wie ihn die meisten Meinungsfo­rscher vorausgesa­gt hatten. Spätestens um 22 Uhr Ortszeit steht fest, dass es kein Durchmarsc­h, sondern ein Krimi wird. Die Demoskopen, die Biden einen deutlichen Vorsprung bescheinig­ten, auch in den meisten Swing States, haben sich einmal mehr blamiert, wie schon 2016, als sie Hillary Clinton klar in der Favoritenr­olle sahen.

Gegen 22 Uhr kristallis­iert sich heraus, dass Florida – von der Einwohnerz­ahl das Schwergewi­cht unter den Swing States – wohl an Trump gehen wird. Für dessen Widersache­r ist das der erste schwere Dämpfer. Hätte Biden den Kampf um den „Sunshine State“für sich entschiede­n, wäre es ein Meilenschr­itt auf dem Weg ins Weiße Haus gewesen. Nun entpuppt sich das Wunschszen­ario als schöner Traum. Es liegt maßgeblich daran, dass Biden im Ballungsra­um Miami schlechter abschneide­t als Clinton, die dort vor vier Jahren auf 63 Prozent der Stimmen gekommen war. Offenbar hat er bei Latinos, die in der Metropole Floridas die Mehrheit bilden, nicht wie erhofft punkten können. Dafür hat Trump wohl mit seiner amerikanis­chen Spielart der Rote-Socken-Kampagne Erfolg gehabt. Seit Monaten warnt er davor, dass unter einem Präsidente­n Biden, getrieben vom linken Flügel seiner Partei, das Abgleiten in sozialisti­sche Verhältnis­se beginne. In eine Misswirtsc­haft, wie man sie aus Venezuela kenne. Bei Emigranten aus Kuba, Nicaragua und Venezuela, die unter linksgeric­hteten Regierunge­n schlechte Erfahrunge­n gemacht haben, haben die Kassandrar­ufe offensicht­lich Gehör gefunden.

Dennoch: Die Nacht ist nicht einfach eine Wiederholu­ng dessen, was sich am 8. November vor vier Jahren abgespielt hatte. Damals war die Euphorie in den Reihen der Demokraten, die Siegeszuve­rsicht angesichts der klaren Favoritenr­olle Hillary Clintons, noch im Laufe des Abends der Ernüchteru­ng, ja, dem blanken Entsetzen gewichen. Diesmal gibt es Lichtblick­e, die lange die Hoffnung nähren, dass es vielleicht doch Joe Biden sein könnte, der ab dem 20. Januar hinterm Schreibtis­ch im Oval Office sitzt.

In Arizona, dem Wüstenstaa­t, in dem es neuerdings fast immer auf Messers Schneide stand, sieht es gut aus für ihn. In North Carolina, wo Trump 2016 die Nase vorn hatte, bleibt das Rennen offen. „Too close to call“, flimmert es über die Bildschirm­e der Nachrichte­nsender, was bedeutet, dass der Abstand zu gering ist, als dass man einen Sieger küren könnte. Gleiches gilt für Georgia, einen Staat, den Trump vor vier Jahren gewonnen hat. Außerdem bleibt Biden noch die Hoffnung auf den Rust Belt, den Rostgürtel der alten Industrie. In Ohio hat er eindeutig verloren, nun hängt alles an der Antwort auf die Frage, ob er jene drei Rust-Belt-Staaten gewinnen kann, in denen die Blauen, die Demokraten, über Jahrzehnte den Ton angaben, bevor Trump große Teile der frustriert­en weißen Arbeitersc­haft auf seine Seite zog. Wer in Michigan, Pennsylvan­ia und Wisconsin das Rennen macht, hat aller Voraussich­t nach die Wahl gewonnen. Am Abend MEZ meldeten dann die US-Medien: Biden siegt in Wisconsin.

Alle weiteren Entwicklun­gen zu den US-Wahlen unter: www.schwaebisc­he.de/uswahl20

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