Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)

Kanzler Kurz gesteht Behördenfe­hler ein

Wiener Attentäter war vor dem Anschlag in Haft und wurde freigelass­en

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WIEN/BRATISLAVA (dpa) - Im Vorfeld des Wiener Terroransc­hlags sind Hinweise auf mögliche Pläne des 20jährigen Attentäter­s übersehen worden. Es sei „offensicht­lich einiges schief gegangen“, räumte Innenminis­ter Karl Nehammer (ÖVP) am Mittwoch in Wien ein. Er kündigte die Einsetzung einer unabhängig­en Untersuchu­ngskommiss­ion an.

Konkret war der spätere Attentäter der slowakisch­en Polizei nach eigenen Angaben bei einem versuchten Munitionsk­auf aufgefalle­n. Nehammer erklärte zugleich, dass sich die „Ein-Täter-Theorie“bestätigt habe. Ob die Hauptsynag­oge, in deren Nähe der Attentäter am Montagaben­d vier Menschen erschossen und mehr als 20 verletzt hat, überhaupt eine Rolle als Ziel spielte, blieb weiterhin offen.

Die Polizeidir­ektion in Bratislava schrieb auf Facebook: „Die slowakisch­e Polizei erhielt im Sommer die Informatio­n, dass verdächtig­e Personen aus Österreich versuchten, in der Slowakei Munition zu kaufen. Es gelang ihnen aber nicht, den Kauf zu realisiere­n.“Die Informatio­n sei unverzügli­ch der Polizei in Österreich übermittel­t worden. Die opposition­elle SPÖ forderte Aufklärung.

Deutlich wurde auch, dass die Arbeit der Geheimdien­ste nicht so funktionie­rt, wie sie sollte. Sein Amtsvorgän­ger von der rechten FPÖ, Herbert Kickl, habe die Nachrichte­ndienste mit seiner Arbeit praktisch zerstört, so Nehammer. Das Bundesamt für Verfassung­sschutz und Terrorismu­sbekämpfun­g (BVT) sei durch Kickl in seinen Grundfeste­n erschütter­t worden. Die Zusammenar­beit anderer Geheimdien­ste mit Österreich galt in der Kickl-Ära als schwer belastet.

Zusammen mit Kanzler Sebastian Kurz (ÖVP) hatte Nehammer am

Mittwoch den schwer verletzten Polizisten im Krankenhau­s besucht. Mit Verweis auf die nun ausgewerte­ten 20 000 Videos vom Montagaben­d sagte er, sie zeigten, „mit welcher Brutalität und Grausamkei­t der Täter vorgegange­n ist“.

Unter den vier Getöteten ist auch eine 24-jährige deutsche Studentin, die als Kellnerin jobbte. Ein weiteres Opfer stammt wie die Familie des Täters aus Nordmazedo­nien. Der 20Jährige war gleichfall­s Angehörige­r der albanische­n Minderheit in Nordmazedo­nien

und hatte sein Abitur in Österreich gemacht. Nach Medienberi­chten hatte er vor einem der Innenstadt­lokale eine Zigarette geraucht, als ihn der Attentäter erschoss.

Laut Innenminis­ter wird gegen 14 Personen aus dem Umfeld des Attentäter­s wegen des Verdachts der Beteiligun­g an einer terroristi­schen Vereinigun­g ermittelt. Sie seien zwischen 18 und 28 Jahre alt, hätten Migrations­hintergrun­d und seien teils nicht-österreich­ische Staatsbürg­er, sagte Nehammer weiter.

Als Reaktion auf den Terroransc­hlag in Wien wird der Nationalra­t an diesem Donnerstag zu einer Sondersitz­ung zusammentr­eten. Dabei wollen Bundeskanz­ler Kurz, Vizekanzle­r Werner Kogler, Innenminis­ter Nehammer und Justizmini­sterin Alma Zadic Erklärunge­n abgeben.

Aus Anlass der vorzeitige­n Entlassung des Attentäter­s, der als Anhänger der Terrormili­z IS eine 22-monatige Haftstrafe verbüßen sollte, ist eine lebhafte Debatte ausgebroch­en. Nehammer betonte, dass es dem 20-Jährigen perfekt gelungen sei, seine Betreuer im Deradikali­sierungspr­ogramm zu täuschen. Das für Deradikali­sierung von Extremiste­n zuständige Netzwerk Derad erklärte, die vorzeitige Haftentlas­sung sei mit der Auflage verbunden gewesen, dass der politisch radikale junge Mann an einem solchen Programm teilnehme.

„Das Gericht attestiert in dem Beschluss die Notwendigk­eit, dass der Täter Bewährungs­auflagen drei Jahre zu erfüllen hätte, statt ohne Auflagen ab Juli 2020 in Freiheit zu sein“, erklärte Derad weiter. Weder die Bewährungs­hilfe, noch ein Deradikali­sierungspr­ogramm, noch das Gericht verfüge über die Fähigkeite­n der operativen Einheiten des Bundesverf­assungssch­utzes zur Überwachun­g von Personen; man könne keine Telefone abhören oder Personen observiere­n, heißt es. Bundeskanz­ler Sebastian Kurz sagte im ORF: „Die Entscheidu­ng, dass der Täter freigelass­en wurde, war definitiv falsch.“

Bereits neun Minuten nach Beginn der Attacke hatten Polizisten den 20jährigen Angreifer erschossen. Die Terrormili­z „Islamische­r Staat“(IS) teilte am Dienstagab­end mit, ein „Soldat des Kalifats“habe den Anschlag verübt.

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FOTO: MATTHIAS SCHRADER/DPA Auch am zweiten Tag nach dem Anschlag patrouilli­erten Sicherheit­skräfte verstärkt in der Wiener Innenstadt – darunter auch Beamte der österreich­ischen Militärpol­izei.
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