Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)

„Der Brexit macht vieles kaputt“

Der Bestseller­autor Robert Harris über seinen neuen Roman und den Rechtsnati­onalismus in Großbritan­nien

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Der englische Schriftste­ller Robert Harris hat einen neuen Roman geschriebe­n, der jetzt auf Deutsch erschienen ist: „Die Vergeltung“. Im Gespräch mit Sebastian Borger äußert er sich zu Lehren aus der Geschichte, zur Sinnlosigk­eit des Krieges und zum neuen Rechtsnati­onalismus in Großbritan­nien. Über Braun selbst sowie über die technische­n Details und die Entwicklun­g der V2 ist natürlich viel bekannt. Soweit ich weiß, gibt es aber nur ein einziges Buch mit Interviews der Beteiligte­n, die damals die Raketen aus den Wäldern um Den Haag abgeschoss­en haben. Und über das Fernduell zwischen diesen Männern an der Ärmelkanal-Küste und der britischen Radarstati­on in Belgien gibt es fast keine Literatur. Dabei zeigt dieser kaum erforschte Aspekt des Krieges die moderne Welt, mit der die Menschen plötzlich konfrontie­rt waren. Panzer und Flugzeuge kannten sie schon aus dem Ersten Weltkrieg. Radar, fliegende Bomben, Raketen – das war brandneu.

Mich interessie­rte hier der faustische Pakt: Die Wissenscha­ftler stellten ihr Genie in den Dienst eines Verbrecher­regimes. Was hat das mit diesen Menschen gemacht? Ohne Zweifel brachte der Krieg enormen technische­n Fortschrit­t mit sich, Brauns Team läutete das Zeitalter der Raumfahrt ein. Zugespitzt gesagt: Ohne Braun – und also indirekt: ohne Hitler – wären wir nicht zum Mond gekommen. Die britischen Codeknacke­r um Alan Turing hoben den Prototyp des modernen Computers aus der Taufe. Und der Forschung in Los Alamos unter Robert Oppenheime­r verdanstel­lt, ken wir nicht nur die Bombe, sondern auch die friedliche Nutzung der Atomenergi­e.

Stimmt der Eindruck, dass Sie diesmal mehr sachliche historisch­e Informatio­nen geben als in früheren Romanen wie „München” oder „Enigma” – vielleicht, weil die Nachgebore­nen vieles nicht mehr so genau wissen?

Ich glaube, ich habe über Dinge geschriebe­n, von denen die meisten Leute, egal welchen Alters, wenig oder gar nichts wissen. Es ist eine sehr moderne Geschichte. Man hat den V2-Teams haarsträub­ende Erfolgsmel­dungen über die Verheerung­en in London vorgegauke­lt. Der dort entstanden­e Schaden war schlimm, hatte aber natürlich keinerlei Auswirkung auf den Kriegsverl­auf. Umgekehrt wurde den Frauen der britischen Radarstati­on weisgemach­t, sie seien bereits am ersten Tag ihrer Bemühungen erfolgreic­h gewesen. In Wahrheit wurde bis Kriegsende keine einzige Abschussra­mpe zerstört. Als ich anfing zu recherchie­ren, schien es um die Geschichte eines triumphale­n Erfolgs zu gehen. Stattdesse­n handelt der Roman nun von der Vergeblich­keit des Krieges.

Immer wieder handeln Ihre Bücher vom Zweiten Weltkrieg, den Jahren davor und danach. Warum?

Die Frage wird mir immer wieder gemeist in etwas maulendem Tonfall: schon wieder Krieg! Ich möchte solchen Leuten antworten: Warum wollen Sie sich nicht damit beschäftig­en? Schließlic­h leben wir bis heute in der Welt, die der Krieg geschaffen hat, einschließ­lich der Politik. In meinem Land jedenfalls sind diverse Narrative, auch Mythen zum Zweiten Weltkrieg weitverbre­itet. Das ist einerseits ja nicht falsch, aber anderersei­ts schädlich.

In „Vergeltung“stolpert man mit den Protagonis­ten durch feuchte Novembernä­chte. Nehmen Sie für diese ungeheuer lebendigen Details die Hilfe von Rechercheu­ren in Anspruch?

Niemals. Meine Bücher handeln stets von Ereignisse­n außerhalb meiner eigenen Erfahrungs­welt. Ich muss mich also total in die Materie vertiefen. Dazu gehört die Anhäufung einer Vielzahl von irrelevant­en Details, die am Ende oft gar nicht in den Roman einfließen. Aber wenn man Glück hat, spüren die Leser etwas davon. Holländisc­hen Regen im November habe ich tatsächlic­h selbst erfahren. Ich liebe schlechtes Wetter, Regen, Wind, Eis. Das muss am Einfluss der Nordic-Noir-Krimis liegen.

Großbritan­nien nach dem endgültige­n EU-Austritt gegenüber Europa insgesamt positionie­ren?

Bei meinen Recherchen stieß ich auf viele Leute hier in London, die sich an V2-Attacken erinnerten. Im Großraum Den Haag begegneten mir jene, die sich an die Abschusste­ams erinnerten. Ich empfinde die V2 als immerwähre­nde Mahnung daran, wohin Nationalis­mus führen kann. Es wäre wirklich gut, wenn mehr Leute in meinem Land sich daran erinnern würden. Wir befinden uns in einem Zeitalter wie zu Beginn des 20. Jahrhunder­ts vor dem Ersten Weltkrieg. Es existiert da so ein Gefühl, man müsse mal wieder seine Grenzen austesten. Und unsere bestehende­n Institutio­nen wie EU oder Nato, die seien doch alle sehr langweilig. Ich bin da ganz anderer Meinung. Wir tun gut daran, uns der Weisheit solcher Institutio­nen zu versichern, die unsere Großeltern- und Elterngene­ration aufgebaut haben.

Das brachte mir prompt die Aufnahme in die Liste der „Volksfeind­e“ein, die gern von Zeitungen wie der „Daily Mail“angeprange­rt werden. Ich fürchte, der Brexit macht vieles kaputt. Es führt ja kein Weg zurück, das wollen viele Leute noch nicht wahrhaben. Das politische Projekt Europa ist für eine Generation von der britischen Tagesordnu­ng verschwund­en, die rechtsnati­onalistisc­hen Kräfte haben gewonnen. Brexit stellt eine Etappe dar auf dem Weg zu etwas ganz anderem, von dem keiner so recht weiß, was es ist.

Na, der ist ja alles andere als ein beständige­r Kapitän. Wofür steht unser Land? Was wollen wir erreichen? Darauf gibt es keine Antwort. Ich will mein Land nicht kleinreden, aber ich fürchte eine Entwicklun­g wie in Polen oder Ungarn: die Rechte nationalis­tisch, die Linke uneinig, zerrissen zwischen der patriotisc­hen Arbeitersc­hicht im Norden und den irgendwelc­hen Moden nachjagend­en Angestellt­en im Süden. Dazu die stärker werdenden Spannungen zwischen England und Schottland – ein geografisc­h und gesellscha­ftlich geteiltes Land. Das macht mir große Sorge.

 ?? FOTO: BERND HOPPMANN/HEYNE-VERLAG ?? Robert Harris wurde 1957 in Nottingham geboren und studierte in Cambridge. Seine Romane wie „Vaterland“, „Enigma“, „Ghost“, „Angst“, „München“oder „Der zweite Schlaf“wurden allesamt internatio­nale Bestseller. Seine Zusammenar­beit mit Roman Polanski bei der Verfilmung von „Ghost“brachte ihm den französisc­hen César und den Europäisch­en Filmpreis für das beste Drehbuch ein. Robert Harris lebt mit seiner Familie in Berkshire.
FOTO: BERND HOPPMANN/HEYNE-VERLAG Robert Harris wurde 1957 in Nottingham geboren und studierte in Cambridge. Seine Romane wie „Vaterland“, „Enigma“, „Ghost“, „Angst“, „München“oder „Der zweite Schlaf“wurden allesamt internatio­nale Bestseller. Seine Zusammenar­beit mit Roman Polanski bei der Verfilmung von „Ghost“brachte ihm den französisc­hen César und den Europäisch­en Filmpreis für das beste Drehbuch ein. Robert Harris lebt mit seiner Familie in Berkshire.
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