Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)
Leichenwächter Angstwurm und der Tod
Eine Ausstellung in Marktoberdorf erzählt vom Sterben in früherer Zeit
MARKTOBERDORF - Ein Name wie ausgedacht für einen kracherten Heimatfilm über die gute alte Zeit im Königreich Bayern. Georg Angstwurm. Tatsächlich ist an dem Mann jedoch rein gar nichts erfunden. Er lebte und arbeitete Ende des 19. Jahrhunderts in Marktoberdorf. Und er ging einem besonderen Beruf nach. Er war der erste Leichenwächter im damaligen Oberdorf. Leider machte Angstwurm seinem Namen etwas zu viel Ehre: Mit den Toten wollte er nämlich nicht allzu viel zu schaffen haben. Was den königlichen Medizinalrat denn auch zu einem Rüffel veranlasste. Aber davon später mehr.
Der Tod und alles, was er mit sich bringt, ist in Marktoberdorf ausführlich dokumentiert. So gut, dass es den Historikern Josephine Berger und Andreas Berg vom Archiv der Stadt möglich war, eine Schau zu verwirklichen, die in der Region und darüber hinaus ihresgleichen sucht. „Uns ist keine weitere Ausstellung bekannt, die sich so umfassend dem Thema Tod widmet“, sagt Josephine Berger. In der Ostallgäuer Kreisstadt ist zu sehen, wie die Menschen im 19. und frühen 20. Jahrhundert ihre Liebsten zu Grabe trugen. „Heute wird das Sterben tabuisiert. Früher jedoch war das Thema Tod viel selbstverständlicher ins Leben integriert“, sagt Andreas Berg.
Viele Exponate haben die Macher der Ausstellung zusammengetragen, darunter eine Leichenkutsche, Grabsteine, Perlkränze oder Sterbebilder.
Die Ausstellung „Von Haarbildern und Scheintodklingeln“geht unter anderem auf die Hysterie um den Scheintod ein oder rekonstruiert die tausendjährige Geschichte des Marktoberdorfer Friedhofs auf dem Schlossberg. Womit wir wieder beim Leichenwächter Angstwurm wären. Der hatte seine Wohnung im ersten Stock des im Jahr 1899 eingeweihten Leichenhauses. „Vom Wohnzimmer aus blickte er auf den Friedhof“, sagt Josephine Berger. Die Marktoberdorfer Friedhofswärter und ihre Familien lebten bis in die 1970er-Jahre über der Leichenhalle. Noch heute dient die ehemalige Küche als Aufenthaltsraum für die Friedhofsangestellten.
Zu Angstwurms in der „Leichenund Leichenhaus-Ordnung“festgehaltenen Pflichten gehörte es, regelmäßig nach jedem Toten im Leichenhaus zu sehen. Sollte der Aufgebahrte ein Lebenszeichen von sich geben, wäre dies einem Arzt zu melden. Zudem musste er „die Hände der Leiche mit einer mechanischen Weckvorrichtung in Verbindung“bringen. „Ob der Leichenwächter Angstwurm seine Aufgabe aber richtig ernst nahm, lässt sich zumindest anzweifeln“, sagt Berger. Im Protokoll zu seiner Visitation im Jahr 1906 lobte der königliche Medizinalrat zwar die Sauberkeit des Leichenhauses. Aber er kritisierte das Fehlen der üblichen Drähte und Läutevorrichtungen, „um etwaige Bewegungen als Zeichen des Wiedererwachens aus dem Scheintode zu melden“. Interessant ist nicht nur die Kritik an Angstwurm
und seiner Missachtung der Vorschriften.
Ungewöhnlich ist vielmehr der Zeitpunkt dieser Rüge. „Die Debatte um den Scheintod war eigentlich schon lange vorbei“, sagt Berger. Die große Scheintod-Hysterie war Ende des 18. Jahrhunderts ausgebrochen, ebbte jedoch bis zum zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts nahezu vollständig ab. Gerade die Scheintod-Angst hatte aber die Bestattungskultur laut den Experten vom Museum für Sepulkralkultur in Kassel auf formaler Ebene revolutioniert: Eingeführt wurde etwa die Leichenschau durch einen Mediziner, es gab nun Totenschein und Bestattungsfrist. Und dennoch mussten in Marktoberdorf die Hände der Toten mit einer Klingel verbunden sein. Die Toten ruhen dort hoch über der Stadt. Erste Hinweise auf eine Ruhestätte auf der Anhöhe stammen aus dem Jahr 750. Als 1896 eine Neuordnung des Schlossbergfriedhofs notwendig wurde, entstand im Schatten der Barockkirche St. Martin Außergewöhnliches: die sogenannten Doppelgräber. „Sie sind in der Region einzigartig“, sagt Berger. Es sind Familiengräber, in deren Mitte ein Grabstein steht und auf deren Vorder- und Rückseite jeweils vier Särge Platz finden. Die Idee zu dieser Grabform war aus der Not geboren. Durch seine Berglage hatte der Friedhof nur eine begrenzte Fläche. „Mit diesen Gräbern sparte man sich Platz“, sagt die Historikerin Josephine Berger.
Doch Mitte des vorigen Jahrhunderts wurde es wieder eng auf dem
Schlossbergfriedhof. Gleichzeitig war die Rückseite vieler Doppelgräber jedoch nicht belegt. Und so ordnete die Kirchenverwaltung im September 1944 an, den freien Platz auf der Rückseite der Familiengräber zu nutzen. Menschen aus evakuierten Gebieten und Flüchtlinge fanden so ihre letzte Ruhe bei alteingesessenen Marktoberdorfer Familien.
Aus dieser Zeit stammt auch ein außergewöhnliches Exponat der Marktoberdorfer Schau: Der Grabstein des polnischen Kriegsgefangenen und Zwangsarbeiters Johann („Jan“) Niedziela, der am 18. Mai 1941 an einer Lungen- und Bauchfelltuberkulose in Marktoberdorf starb. Sein Freund Josef Pusch, auch ein junger Pole, war bei einem Steinmetzmeister beschäftigt. Und es wurde ihm erlaubt, dort das aufwendig verzierte Grabmal für Niedziela zu schaffen.
„Dieser Grabstein ist ein Symbol der Nächstenliebe. Es zeigt: Menschlichkeit war trotz Rassenideologie möglich“, sagt Historiker Andreas Berg. Der Stein wird zum Mittelpunkt einer neuen Gedenkstätte auf dem Schlossbergfriedhof. Das Mahnmal soll an jene Gefangenen erinnern, die in Marktoberdorf während des Zweiten Weltkriegs gestorben sind.