Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)
Im „Stiefel“endet eine gastronomische Ära
Warum Wirtin Hildegard Müller nach über 31 Jahren in der Traditionswirtschaft aufhört – Und was sie erlebt hat
WANGEN - Eine Institution in der Wangener Traditionsgastronomie sagt „Ade“: Nach mehr als 31 Jahren hört Hildegard Müller als „Stiefel“Betreiberin auf. Die 70-Jährige war eine umtriebige Schafferin und eine Wirtin mit Leib und Seele, bekannt bis weit über die Stadtgrenzen hinaus. Wer als künftiger Pächter der kleinen Wirtschaft am Eselberg in ihre Fußstapfen treten wird, steht noch nicht fest.
Hildegard Müller sitzt an diesem Dienstagnachmittag am Stammtisch. Das Mittagsgeschäft mit jeder Menge Gäste, die dieser Tage das Essen aus der kleinen Wirtschaft am Eselberg mitnehmen, ist gerade erst vorbei. Und der stressige Abend kündigt sich via Telefon fast schon im Minutentakt an. „Sieben halbe Hähnchen, sieben Mal Pommes, um 18.10 Uhr, geht in Ordnung“, spricht die Wirtin in den Hörer und notiert sich die Bestellung in einem großen Block. So gehe das schon die gesamte letzte Woche, in der sie allein 740 halbe Hähnchen verkauft habe: „Alle wollen nochmal was haben, bevor Schluss ist“, sagt die 70-Jährige, die wohl wie keine andere die alteingesessenen Wangener Wirtschaften verkörpert.
Dabei war Müller als Wirtin eine Spätberufene. Aufgewachsen in einer Amtzeller Bauernfamilie machte sie zunächst eine Ausbildung als Metzgereifachverkäuferin und heiratete 1970 ihren Mann Paul. Neben der eigenen Landwirtschaft arbeitete sie insgesamt 20 Jahre nebenher als Bedienung im früheren „Adler“in Staudach, außerdem zwischen 1979 und 1989 bei der Wangener Beckmann KG als eine Art „Mädchen für alles“. Dann hörten die Müllers über einen Bekannten, dass der „Stiefel“neu verpachtet wird. „Es waren damals 33 Bewerber, und wir haben den Zuschlag gekriegt“, erinnert sich Hildegard Müller. „Aber es war für uns damals schon ein Risiko, weil es halt etwas Neues war.“
Nun sitzt die Wirtin also am Stammtisch und blickt auf die vergangenen gut 30 Jahre zurück. Wie ihr Sohn Ralf ab 1990 und 23 Jahre lang dabei war, wie ihr heute 85-jähriger Mann in 2000 in Rente ging, wie sie seit sieben Jahren zusammen mit Hilfe von Angestellten und Familienmitgliedern den Laden im Prinzip in Eigenregie umtreibt. Und dabei die körperliche Arbeit auch im höheren Alter nicht scheut, wenn sie stundenlang in der dampfenden Küche steht oder das Lager im Keller mit der schweren Ware selbst befüllt. „Man hat keine Freizeit, muss auf viel verzichten“, sagt Hildegard Müller. „Aber ich habe meine Entscheidung von damals bis heute nicht bereut.“
Hier kommen ihre Gäste ins Spiel, von denen manche schon jahrzehntelang bei ihr einkehren und die für sie mittlerweile „wie eine Familie sind“. Sportler, Sänger oder Schützen trafen oder treffen sich regelmäßig im „Stiefel“, an den Wänden hängen Fotos, Gedichte oder Bilder von den treuesten Gästen, mit denen es früher auch Ausflüge, kleine Feste oder Feiern gab. Und natürlich kann Hildegard Müller über sie auch jede Menge Anekdoten erzählen. Wie von dem bereits angeheiterten Mann, der vorgab, kein Geld mehr für die Rechnung zu haben, seine Hose dann an seinen Gegenüber verkaufte und beim Verlassen der Wirtschaft der vorbeifahrenden Polizei begegnete.
Eben diese, mitunter auch streitlustigen Stammgäste hätten der Wirtin auch die Meinung gesagt, wenn sich am „Stiefel“über die Jahrzehnte bei der Einrichtung oder der Atmosphäre groß etwas verändert hätte. Und so stehen in der kleinen Wirtsstube neben dem runden Stammtisch vor der Theke immer noch nur drei andere, aber eckige Tische, füllt Müllers Puppensammlung weiterhin das Regal an der hinteren Wand und strömt der Duft von Frittierfett wie früher aus der Küche durchs gesamte Lokal.
Apropos Küche: Wie ihre Vorgänger hat auch Hildegard Müller in all den Jahren trotz der kleinen Räumlichkeiten auf eine vergleichsweise große Speisekarte gesetzt. Vor allem schwäbische Hausmannskost, mit selbst gemachten Soßen, Brühen oder Salaten, und natürlich die Brathähnchen, wegen denen der „Stiefel“im weiten Umkreis besonders bekannt ist. „Ich habe viel gekocht, aber nur wenig Zeit zu kalkulieren gehabt“, sagt die 70-Jährige mit einem Lächeln. „Das rechnet sich einigermaßen aber nur dann, wenn man auch viel selber macht.“Und entsprechend Zeit investiert.
Ursprünglich wollte Müller erst am 14. November Schluss machen, in der Woche danach waren noch Abschiedsessen geplant, doch nun ist ihre Zeit als „Stiefel“-Wirtin schon jetzt zu Ende. Spätestens am Donnerstag, 5. November, wollte sie „wirklich zum letzten Mal aufmachen“. Der grundsätzliche Entschluss aufzuhören war schon vor knapp zwei Monaten gefallen, als es gesundheitliche Probleme gab – erst die Hüfte, dann der Fuß. Nach einem Krankenhausaufenthalt hat Müller zwar seit den Herbstferien wieder geöffnet, sagt aber wegen der körperlichen Belastung: „Das hat keinen Wert mehr.“Erst recht nicht mit dem Zusatzaufwand wegen der CoronaBestimmungen: „Deswegen bin ich fast schon froh, dass ich jetzt aufhöre.“
Wer die Wangener Traditionswirtschaft weiter umtreiben wird, steht noch nicht fest. Pächter Gottfried Härle berichtet auf SZ-Anfrage von einigen Bewerbungen, die ihm vorliegen würden. Der Chef der gleichnamigen Leutkircher Brauerei will zudem den Stil des „Stiefels“erhalten: „Da muss und soll man nicht viel machen“, so Härle. Vor Weihnachten werde die Wirtschaft aber nicht mehr öffnen: „Wenn sich das mit Corona stabilisiert, eventuell im Januar oder Februar.“
Was dann Hildegard Müller machen wird? „Erst einmal gesundheitlich wieder auf den Damm kommen“, sagt die 70-Jährige. „Und dann hoffe ich, dass ich nicht in ein Loch falle, da habe ich schon ein bisschen Angst davor.“
Da klingt doch ganz schön Wehmut mit. Und die Erinnerung an die gut 31 Jahre im und mit dem „Stiefel“, wo sich – auch wegen des beengten Platzes – „jeder zu jedem hocken konnte“. „Früher hieß es“, so Hildegard Müller, „du brauchst keinen Fernseher, geh in den Stiefel, da erlebst du das richtige Leben. Hier bist du keine Nummer, sondern Mensch.“
Spricht’s und hält am Stammtisch das abermals klingelnde Telefon ans Ohr: „Dreimal Schweinebraten, mit Spätzle, um 18 Uhr, geht in Ordnung.“