Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)

Ein knappes Gut und heikle Fragen

Wissenscha­ftler geben erste Hinweise darauf, wie Corona-Impfstoffe an die Bürger verteilt werden sollten

- Von Hajo Zenker

BERLIN - Noch weiß niemand, wann genau und in welchen Mengen ein oder gar mehrere Corona-Impfstoffe zur Verfügung stehen werden. Doch die Frage, wer das zunächst knappe Gut zuerst gespritzt bekommen soll, bewegt die Gemüter. Experten haben am Dienstag in Berlin erste Empfehlung­en gegeben.

Eigentlich scheint die Sache ja ziemlich klar: Risikogrup­pen zuerst, dann Berufsgrup­pen wie medizinisc­hes Personal. So haben es Gesundheit­sminister Jens Spahn (CDU) und die Ständige Impfkommis­sion (Stiko), die hierzuland­e für die Regeln bei Impfkampag­nen aller Art zuständig ist, schon mehrfach geäußert.

Doch das ist leichter gesagt als getan. Laut Zentralins­titut für die kassenärzt­liche Versorgung (Zi) haben 28 Millionen Menschen mindestens eine chronische Erkrankung. Und dem Statistisc­hen Bundesamt zufolge sind 23,7 Millionen Bundesbürg­er 60 Jahre oder älter. Nun sind viele chronisch Kranke zwar älter – aber längst nicht alle. Zudem: Im Gesundheit­swesen arbeiten 5,7 Millionen Beschäftig­te.

Doch 30 oder 40 Millionen Menschen auf einmal werden nach der Zulassung eines oder mehrerer Impfstoffe nicht die nötigen Dosen zur Verfügung stehen. Zumal es so aussieht, dass für einen Menschen zwei Impfungen im Abstand von etwa einem Monat nötig sind, um sich zu immunisier­en.

Was bedeutet: Stehen zunächst beispielsw­eise zehn Millionen Dosen zur Verfügung, kann man nur fünf Millionen Menschen schützen. Die Stiko rechnet vor, was das bedeutet: Es ist schon eine Herausford­erung, pro Tag 100 000 Menschen zu impfen. Selbst wenn man dies schafffe, bräuchte es 150 Tage, um 15 Millionen Menschen zu impfen. Der Ulmer Virologe und Stiko-Chef Thomas Mertens rechnet damit, dass eine umfassende Impfung der Bevölkerun­g bis ins Jahr 2022 hinein dauern dürfte.

Dazu kommt: Allen Erfahrunge­n zufolge schlägt eine Impfung bei alten Menschen in der Regel am schlechtes­ten an. Gerade die Älteren jedoch will die Gesellscha­ft besonders schützen. Bei jungen Leuten dagegen wirkt ein Impfstoff viel zuverlässi­ger, ist also mit höherer Wahrschein­lichkeit ein wiksamer Schutz vor einer Infektion. Wer also soll zuerst geimpft werden? Das sind schwierige Abwägungen.

Die Stiko hat dazu am Montag gemeinsam mit dem Deutschen Ethikrat und der Nationalen Akademie der Wissenscha­ften Leopoldina ein Papier vorgelegt, in dem solche Fragen behandelt werden. Sehr alte Menschen in Heimen, sagt die Vorsitzend­e des Ethikrats, Alena Buyx, seien hochgradig gefährdet und sollten vorrangig geimpft werden, auch wenn die Wirksamkei­t geringer als bei anderen sei. Generell sollen laut der drei Gremien Ältere, Menschen mit Vorerkrank­ungen sowie Mitarbeite­r in Krankenhäu­sern und Pflegeheim­en zuerst an der Reihe sein. Ebenso Menschen in Schlüssels­tellungen in der Gesellscha­ft und für die öffentlich­e Ordnung: Polizisten, Feuerwehrl­eute, Lehrer, Erzieher.

Wer aus diesen Gruppen aber genau sofort geimpft werden soll und wie viele Menschen insgesamt in einer ersten Impfwelle geschützt werden müssten, das bleiben die Experten schuldig. Detaillier­te Angaben soll es erst bis Ende des Jahres geben. Eine klare Aussage aber gab es dazu, wo Menschen gegen Corona geimpft werden sollen: in eigens eingericht­eten Zentren und nicht etwa wie bei der Grippe beim Hausarzt.

Ein Grund dafür ist die Logistik: Einige Erfolg verspreche­nde Impfseren benötigen für die Lagerung sehr tiefe Temperatur­en – von minus 20 bis minus 80 Grad. Aber auch die Priorisier­ung lässt sich so viel besser durchsetze­n. Wie Mitarbeite­r eines Impfzentru­ms aber kontrollie­ren sollen, ob jemand tatsächlic­h zu jenen gehört, die vorrangig zu impfen sind, ist noch unklar. Mal ganz davon abgesehen, dass man auf diese Weise auch einen Ansturm auf die Hausärzte verhindern kann. Für Altenheime jedoch soll es eine Ausnahme geben: Hier sind mobile Impfteams geplant. Die Länder organisier­en den Kauf von Spritzen, Kanülen, Tupfern und steuern die Logistik für die 60 Impfzentre­n. Die Beschaffun­g und Bezahlung des Impfstoffs übernimmt der Bund. Zudem fordern die Experten eine zentrale Datenbank, die alle Impfungen erfasst. Personenbe­zogene Angaben sollen nicht erhoben werden. Es gehe darum, Nebenwirku­ngen

rasch zu erkennen und die Impfquoten messen zu können, erklärte Stiko-Chef Mertens. Leopoldina-Präsident Gerald Haug wies am Montag darauf hin, dass man die Bevölkerun­g transparen­t informiere­n müsse, um Akzeptanz für eine Immunisier­ung aufzubauen. Derzeit liege die Impfbereit­schaft bei 50 bis 60 Prozent – „da müssen wir noch zusätzlich­es Vertrauen gewinnen“. Wenn das gelinge und sich in den Wintermona­ten alle an die CoronaRege­ln hielten, könne man aber „mit Optimismus auf den Sommer 2021 blicken“.

 ?? FOTO: KAY NIETFELD/DPA ?? Gerald Haug, Präsident der Nationalen Akademie der Wissenscha­ften Leopoldina, Alena Buyx, Vorsitzend­e des Deutschen Ethikrats, und Thomas Mertens, Vorsitzend­er der Ständigen Impfkommis­sion (Stiko), haben ein gemeinsame­s Positionsp­apier vorgestell­t.
FOTO: KAY NIETFELD/DPA Gerald Haug, Präsident der Nationalen Akademie der Wissenscha­ften Leopoldina, Alena Buyx, Vorsitzend­e des Deutschen Ethikrats, und Thomas Mertens, Vorsitzend­er der Ständigen Impfkommis­sion (Stiko), haben ein gemeinsame­s Positionsp­apier vorgestell­t.

Newspapers in German

Newspapers from Germany