Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)
Der große Wumms kommt noch nicht an
Rekordschulden sollen Folgen der Corona-Krise abfedern – Doch Hilfen fließen nicht ab
BERLIN - Erst zückte Olaf Scholz verbal die Bazooka, dann versprach er den großen Wumms – angesichts der Rezession, die durch die CoronaPandemie ausgelöst wurde, wollte der Bundesfinanzminister (SPD) nicht kleinlich sein. Klotzen statt Kleckern ist bei Hilfen für Bürger und Unternehmen angesagt. Ergebnis: Der Bundestag beschloss für dieses Jahr eine Rekord-Neuverschuldung von 217,8 Milliarden Euro. Für 2021 sieht der Haushaltsentwurf weitere 96,2 Milliarden Euro vor. Was damit bislang passiert ist.
Wie sieht die Zwischenbilanz aus?
Bis einschließlich September hatte der Bund ein Defizit von 72,5 Milliarden Euro. Zwar betont das Bundesfinanzministerium, dass Einnahmen und Ausgaben im Jahresverlauf stark schwanken. Dennoch zeichnet sich ab, dass der Bund seinen Kreditrahmen bei Weitem nicht ausschöpft. Die Wirtschaftsweisen rechnen damit, dass die Gesamtverschuldung des Staates in diesem Jahr um knapp 185 Milliarden Euro steigt. Darin sind allerdings Länder, Gemeinden und die Sozialversicherung enthalten, die alle hohe Defizite einfahren dürften. Die Schuldenquote Deutschlands, die 2019 erstmals seit Langem wieder unter 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts gefallen war, dürfte auf 72,1 Prozent steigen. Damit wäre sie noch weit von jenen 80 oder gar 90 Prozent entfernt, die zu Beginn der Krise im Raum standen.
Warum fließt das Geld nicht ab?
Bürokratische Hürden vermutet Michael Theurer. „Mich erreichen viele Klagen von Selbstständigen, dass die Hilfen nicht ankommen oder nahezu von den für sie notwendigen Steuerberaterkosten aufgefressen werden“, sagt der FDP-Fraktionsvize. Er reagiert damit auf die Auskunft des Wirtschaftsministeriums, dass bis Mitte Oktober nicht einmal eine Milliarde Euro Überbrückungshilfe abgerufen war. Zur Verfügung stehen 25 Milliarden Euro. Inzwischen wurde etwas mehr bewilligt. Dennoch reicht das Geld nicht nur für die zweite Stufe von Oktober bis Dezember, sondern auch für die November-Hilfen für Gaststätten, Hotels und andere Betriebe, die dicht machen mussten. Dafür rechnet Scholz jetzt mit „deutlich über zehn Milliarden Euro“. Andere Posten sind ebenfalls bei Weitem nicht ausSchuldenbremse gereizt. So könnte Scholz durch das Konjunkturprogramm eigentlich drei Milliarden Euro an Investitionen vorziehen. Bisher flossen aber nur 28 Millionen Euro ab. Von den Soforthilfen für Kleinstunternehmen und Solo-Selbständige waren bis Ende Oktober 13,8 Milliarden Euro abgerufen, nur gut ein Viertel der zur Verfügung stehenden Mittel.
Welchen Einfluss hat die neue Steuerschätzung?
Weil die Konjunktur besser läuft als befürchtet, winken dem Bund in diesem Jahr 3,4 Milliarden Euro mehr Einnahmen als nach der letzten Schätzung im September. 2021 könnte das Plus halb so hoch ausfallen. Scholz will sich trotzdem nicht festlegen, ob er mit weniger Krediten auskommt: „Wir können nicht seriös sagen, wie viel Geld wir dieses Jahr am Ende gebraucht haben werden“, sagte er bei Vorstellung der Zahlen am Donnerstag,
Wie geht es 2021 weiter?
Scholz will wie schon in diesem Jahr den Joker einer „außergewöhnlichen Notsituation“ziehen. In einer solchen muss er sich nicht an die halten , die seit 2011 in der Verfassung verankert ist und das Regieren auf Pump bremsen sollte. In seinem Haushaltsentwurf, den der Bundestag im Dezember beschließen soll, hat Scholz 96,2 Milliarden Euro neue Schulden eingeplant. Die braucht er für vielfältige Zusatzausgaben. Nur ein Teil ist coronabedingt, etwa wegen der weiterhin hohen Kurzarbeit.
Und danach?
Scholz betont, er wolle ab 2022 die Schuldenbremse wieder einhalten, die nur wenige neue Kredite erlaubt. Doch in der Planung des Finanzministers für 2022 bis 2024 hat der Präsident des Bundesrechnungshofs, Kay Scheller, eine Lücke von 130 Milliarden Euro ausgemacht. Scheller kritisiert, die Regierung könne nicht sagen, wie sie diese schließen wolle. Außerdem weiß keiner, wie Corona künftig die Einnahmen und Ausgaben des Bundes beeinflusst.
Warum wird in der SPD die Schuldenbremse infrage gestellt?
Durch Corona kämen in den nächsten Jahren auf den Staat große Aufgaben zu. Doch der sei durch die
Schuldenbremse im Grundgesetz deutlich im Handeln eingeschränkt, klagt der niedersächsische Ministerpräsident Stephan Weil, und damit steht er in der SPD nicht alleine da. Forderungen nach einer Aufweichung kommen insbesondere aus den Ländern, die außer in Notfällen gar keine neuen Schulden machen dürfen. Scholz hat sich dem bisher nicht angeschlossen. Als SPD-Kanzlerkandidat denkt er allerdings über höhere Steuern für Gutverdienende nach. Um die Schuldenbremse zu ändern, wäre eine Zwei-Drittel-Mehrheit in Bundestag und Bundesrat erforderlich. Die zu erreichen ist schwierig. Der Chefvolkswirt im Finanzministerium, Jakob von Weizsäcker, entwickelte schon vor der Corona-Krise andere Ideen: Der Staat könnte Geld in einen Fonds stecken, aus dem Investitionen etwa in die Infrastruktur gezahlt werden könnten. So könnte man die Schuldenbremse umgehen. Dafür können sich auch konservative Ökonomen erwärmen, die auf den hohen Nachholbedarf zum Beispiel bei Sanierungen verweisen. Dagegen lehnt Rechnungshofs-Chef Scheller einen solchen Schattenhaushalt strikt ab.