Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)

Die Wunde ist noch nicht verheilt

Fünf Jahre nach dem Anschlag auf das Bataclan ist Frankreich­s Gesellscha­ft vom Kampf gegen den Terrorismu­s geprägt

- Von Christine Longin

PARIS - Das Gefängnis von FleuryMéro­gis bei Paris ist mit mehr als 4000 Insassen die größte Haftanstal­t in Europa. Seit viereinhal­b Jahren sitzt in dem herunterge­kommenen Gebäude Salah Abdeslam ein, der einzige noch lebende Attentäter auf den Konzertsaa­l Bataclan und die Pariser Cafés am 13. November 2015. Hunderte Seiten umfasst die Anklagesch­rift gegen ihn, die Ermittlung­srichter in jahrelange­r Kleinarbei­t zusammenge­tragen haben. Der 31-jährige Franko-Belgier hüllt sich in Schweigen, seit er 126 Tage nach seiner Flucht mit dem Auto in Brüssel festgenomm­en wurde. Nur einmal gab er schriftlic­h eine Erklärung ab, die zeigt, dass er nichts bereut.

Die Anschlagss­erie mit 130 Toten, die er zusammen mit sieben Komplizen verübte, veränderte Frankreich nachhaltig: Schwer bewaffnete Soldaten der „Operation Sentinelle“patrouilli­eren seither durch die Straßen. Der Ausnahmezu­stand, der Demonstrat­ionen

verbot und Hausdurchs­uchungen ohne Richterbes­chluss erlaubte, galt fast zwei Jahre lang. Erst Präsident Emmanuel Macron ersetzte ihn im Herbst 2017 durch eine AntiTerror-Gesetzgebu­ng, die dem Innenminis­ter und den Präfekten als Vertretern des Zentralsta­ates in den Departemen­ts weitreiche­nde Kompetenze­n gibt. Die Justiz wurde weitgehend außen vor gehalten.

Sie kommt im nächsten Jahr zum Zug, wenn im alten Justizpala­st von Paris das Verfahren um die Anschläge des 13. November 2015 beginnt. 1700 Nebenkläge­r, meist Opfer und ihre Angehörige­n, halten sich für den Mammutproz­ess bereit, der alte Wunden aufreißen wird. Denn die Szenen des Grauens jener Nacht, die sogar die Notärzte traumatisi­erte, werden vor Gericht wieder auferstehe­n. Vergessen sind sie ohnehin nicht. Hatten es die Attentäter doch auf den französisc­hen Lebensstil abgesehen, der sich an jenem lauen Freitagabe­nd auf den Terrassen der Bars und Bistros zeigte. „Tous au café“lautete nach den Anschlägen der Slogan, der demonstrie­ren sollte, dass die Franzosen sich ihre Art zu leben nicht nehmen lassen.

Resilienz nennt Macron diese Eigenschaf­t, die er bei jedem Auftritt wieder heraufbesc­hwört. Die Widerstand­sfähigkeit ist in diesem Herbst genauso gefragt wie vor fünf Jahren, denn Frankreich wird erneut von einer Terrorseri­e erschütter­t. Sie begann im September mit dem Prozess gegen die Hintermänn­er des Anschlags auf die Satirezeit­ung „Charlie Hebdo“, die zum Auftakt noch einmal die umstritten­en Mohammed-Karikature­n veröffentl­icht hatte. Ein 25jähriger Pakistaner griff zwei Menschen vor dem ehemaligen Redaktions­gebäude von „Charlie Hebdo“an, das längst an einer anderen Adresse sitzt. Mitte Oktober enthauptet­e ein 18-jähriger Tschetsche­ne im Pariser Vorort Conflans-Sainte-Honorine einen Lehrer und vor zwei Wochen tötete ein 21-jähriger Tunesier in einer Kirche in Nizza drei Gläubige mit dem Messer.

Diese jungen Männer unterschei­den sich deutlich von Salah Abdeslam und seinen Komplizen. Sie gehören nicht zur Terrormili­z „Islamische­r Staat“und ihrem Netzwerk, das sich zu den Anschlägen vom November 2015 bekannte. Statt dessen radikalisi­erten sie sich im Internet und reagierten mit ihren Taten auf eine Stimmungsl­age, die durch die Wiederverö­ffentlichu­ng der Mohammed-Karikature­n entstand.

Von einem „Stimmungs-Dschihadis­mus“spricht deshalb der IslamExper­te Gilles Kepel. Im Gegensatz zu den Attentäter­n des 13. November, von denen einige den Geheimdien­sten bekannt waren, blieb die neue Generation von Angreifern außerhalb ihres Radars. Die Männer traten ihren Opfern auch nicht mit Kalaschnik­ows gegenüber, sondern nutzten Messer. So könnten zu Nachahmung­staten anstiften. „Die Bedrohung ist groß“, warnte Innenminis­ter Gérald Darmanin nach dem Anschlag von Nizza. Die Ziele des 13. November 2015 werden bereits von der Polizei bewacht.

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