Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)
Stehenbleiben und zurückschauen gegen den Optimierungsdrang
Inzwischen trage ich manchmal auch so ein Ding am Arm, das Schritte zählen und den
Puls messen kann. Solche Fitness-Kontrolleure sind hin- und wieder ganz nützlich, wenn sie der Gesundheit dienen. Doch man kann es auch übertreiben bis hin zur sogenannten Selbstoptimierung, die schnell mit Selbstperfektionierung verwechselt wird. Gewicht und Schlafintensität, Bewegungsdauer und Kalorienverbrauch. Alles wird abgefragt. Andere geben mir Zahlen und Werte vor, die ich erreichen muss, um mich besser zu fühlen. Mir wird gezeigt, wie der richtige und optimale Mensch zu sein hat und ich soll diesem Bild entsprechen. Das gilt übrigens nicht nur für die Fitness. Auch die Kindererziehung kann noch optimiert werden und für die perfekte Beziehung gibt es unzählige Ratgeber.
Viele Menschen leiden darunter, dass sie einem Menschenbild, das nur Erfolg und Fortschritt zulässt, nicht entsprechen können. Und vor allem, dass sie für jedes Gelingen und jedes Scheitern selbst verantwortlich sein sollen.
Unser Leben ist mehr, als das, was wir angeblich daraus machen und messen können. Zu diesem Leben gehören Fehler, die uns passieren und Grenzen, an die wir stoßen. Zu diesem Leben gehören unsere Sorgen um die Zukunft und die Sehnsucht nach Frieden. Zu diesem Leben gehören Streit und Versöhnung, Lachen und Weinen, Hinfallen und Aufstehen. Menschen, die an uns denken und Menschen die wir gar nicht kennen.
Manchmal ist es gut, einmal stehenzubleiben und zurückzuschauen. Wo habe ich mich verrannt? Wo habe ich jemanden verletzt? Was war gut und wofür bin ich dankbar? Stehenbleiben und zurückschauen auf das eigene Leben, verzeihen und um Verzeihung bitten, wo es nötig ist. In der Bibel heißt das Umkehr. Martin Luther hat Umkehr mit Buße übersetzt. Immer wieder mal stehenbleiben und zurückschauen, das tut auch jeder Gesellschaft gut. Dazu wurden öffentliche Bußtage eingeführt.
Bußtage gab es schon in der Bibel, meist als Fastentage nach erlittenem Unglück. In dieser Tradition steht auch der evangelische Buß- und Bettag. Als allgemeiner gesetzlicher Feiertag ist der Buß- und Bettag zwar abgeschafft, dennoch bleibt er ein wichtiges Datum im Kirchenjahr.
Stehenbleiben und zurückschauen, wenn die Seele den Schritten, die das Ding an meinem Arm anzeigt, nicht mehr hinterherkommt. Das täte uns allen gut, nicht nur an Bußund Bettag.
Pfarrer Volker Gerlach, Evangelische Kirchengemeinde Leutkirch