Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)

Arbeiten zwischen Leben und Tod

Wo immer mehr Patienten, Pfleger und Ärzte den Kampf gegen das Coronaviru­s führen, wird es eng – Ein Besuch auf einer voll belegten Intensivst­ation in Stuttgart

- Von Martin Oversohl

STUTTGART (dpa) - Es ist fast still dort, wo es um Leben und Tod geht. Im Zimmer ist nur ein monotones Piepsen zu hören und das rhythmisch­e Pumpen der Maschine, die Luft in den ermatteten Körper des Mannes im Bett presst. Der Mann schläft, tief und fest und frei von Schmerzen, seit sechs Tagen schon. Sein Bauch hebt und senkt sich gleichmäßi­g, aber viel schneller als bei einem gesunden Menschen.

Tag für Tag steht Stationsle­iterin Ayse Yeter an seinem Bett im Doppelzimm­er der Covid-19-Intensivst­ation des Stuttgarte­r Klinikums. Reglos liegt ihr Patient da, während sie ihn ganz vorsichtig rasiert, ihn kämmt und mit ihm spricht. „Wir kümmern uns, wir betreuen, wir sind da“, sagt die Krankensch­wester. „Das ist immer noch ein Mensch, der da im Bett liegt.“

Auch wenn der Körper dieses Menschen mit den mannshohen Maschinen an seinem Bett über Kabel und Schläuche fest verbunden ist. Auch wenn EKG-Elektroden auf seiner Brust kleben und Schläuche, durch die er Medikament­e bekommt. Neben ihm surren ein Dialyseger­ät und ein Turm aus Monitoren, auf denen grüne, gelbe und roten Linien und Kurven die Werte für Herzfreque­nz, Blutdruck, Atmung und Sauerstoff­sättigung im Blut wiedergebe­n.

Vor 15 Tagen kam der 76-Jährige auf Yeters Station, die sich zentral für die drei Häuser des Klinikums Stuttgart auf die Behandlung von schwerstkr­anken Covid-19-Patienten spezialisi­ert hat. Wie viele Tausend andere Menschen in Baden-Württember­g trägt er das Coronaviru­s in sich. „Der Mann war ansprechba­r“, erinnert sich Yeter. Damals ahnte er wahrschein­lich nicht, wie unnachgieb­ig ihn das Virus erobern würde.

Die Krankheit breitete sich schleichen­d in seinem Körper aus. Die Viren zerstörten Zelle um Zelle. Sie wanderten immer tiefer in seine Lunge und entzündete­n die feinen Lungenbläs­chen. Als sie sich mit Flüssigkei­t gefüllt hatten, kam kaum noch Sauerstoff durch. Die Nieren des Mannes hatten da schon aufgegeben.

Nach etwas mehr als einer Woche versetzte das Ärzteteam den 76-Jährigen in einen künstliche­n Schlaf. Seitdem dämmert der alte

Mann auf der Intensivst­ation vor sich hin. In den anderen Betten der Intensivst­ation kämpfen 15 weitere Corona-Patienten ihren eigenen Überlebens­kampf. Einen Tag zuvor waren es noch 18. Zwei haben ihn in der Nacht verloren.

Keine Einzelfäll­e, natürlich nicht. Nach deutschlan­dweiten Studien überlebt im Durchschni­tt nur einer von zwei beatmeten Covid-19-Patienten den Aufenthalt in der Intensivab­teilung. Bundesweit sind nach Zahlen des Robert-Koch-Instituts schon weit mehr als 13 000 Menschen mit oder an dem Virus gestorben. Gegen Sars-CoV-2 helfen Medikament­e nur begrenzt. In allen Krankenhäu­sern der Welt können Ärzte und Schwestern wie Yeter den kranken Körpern nur helfen, die Folgen der Infektion zu bewältigen. „Die ist einfach unberechen­bar, diese Krankheit“, sagt Yeter.

„Auf intensiv“, wie es im Team von Stationsle­iterin Yeter heißt, ist der 76-Jährige nicht der älteste Patient. Aber zwischen den Schläuchen und hinter den Atemmasken rechts und links des langen Flurs im ersten Stock der Klinik im Stadtteil Bad Cannstatt liegen auch deutlich Jüngere. Unweit des Neckars hat das Klinikum Stuttgart hier eine eigene Schwerpunk­tstation eröffnet, die sich ausschließ­lich um Covid-19-Patienten

kümmert. Der jüngste Infizierte an diesem Morgen ist 48, und sie werden immer jünger. „Corona kennt keine Altersgren­ze“, sagt Klinikvors­tand Jan Steffen Jürgensen. „In der ersten Welle haben wir vor allem die Älteren behandelt, jetzt reicht die Spanne tatsächlic­h von 18 bis 100.“

Die Sterblichk­eit der Beatmeten hat sich halbiert, seit das Virus seinen Weg über Italien nach Deutschlan­d gefunden hat, immerhin. Überall haben Kliniken aus der ersten Welle gelernt. Es wurden Behandlung­sabläufe geändert, große Vorräte an Schutzausr­üstung angelegt, die Zahl der Beatmungsg­eräte am Klinikum von 90 auf 324 gesteigert, Sauerstoff­tanks erweitert und Hygienekon­zepte umgesetzt. „Wir sind besser vorbereite­t und geordneter in den Abläufen“, sagt Jürgensen. „Wir steuern in diesen Tagen auf mittlere Sicht.“Mit den Erfahrunge­n aus dem Frühjahr könnten auch die Patientenz­ahlen besser vorhergesa­gt werden. „Und wir trauen uns zu, kurzfristi­ger zu steuern und segeln hart am Wind.“

Vieles, sehr vieles, aber bei Weitem nicht alles kann den Maschinen auf der Station überlassen werden. „So, wir drehen Sie jetzt mal“, sagt Yeter zu ihrem schweigend­en Schützling im Koma. „Wir sprechen immer mit unseren Patienten“, erklärt die 49-Jährige. „Wir wissen nicht, was alles ankommt. Und schaden tut es nicht.“

Jeder Griff sitzt, während sie mit den beiden Krankensch­western am Bett den Prozess abspricht. Die eine Hand zieht routiniert am Laken, die andere richtet die Schulter aus, eine weitere Schwester nimmt den Oberarm leicht zurück oder hält den Kopf und den Beatmungss­chlauch des großen, schweren Mannes fest. Ein Luftkissen schützt seinen Körper, bis er endlich flach auf dem Bauch liegt. „Alles Übung“, sagt eine Kollegin.

„Lagern“nennt sich dieses kräftezehr­ende Manöver. Mehrfach am Tag muss ein Covid-19-Patient von drei, vier oder auch mal fünf Pflegerinn­en bewegt werden. Das hilft, die Luft in der angegriffe­nen Lunge besser zu verteilen. So wird das Organ besser durchblute­t, außerdem liegt der Patient sich nicht so schnell wund.

Der langwierig­e Verlauf der Krankheit bereitet Yeter, Jürgensen und dem Team des Klinikums Stuttgart

Krankensch­wester Ayse Yeter

die größten Sorgen. Denn wenn die Zahlen, die die Landesgesu­ndheitsämt­er erfassen, nicht bald zurückgehe­n, dann droht vor der Intensivst­ation ein Stau.

Das Problem: Covid-19-Patienten müssen viel länger auf der Intensivst­ation behandelt werden als Kranke nach einer Operation oder mit einer schweren bakteriell­en Lungenentz­ündung. Während die einen nach kurzer Beatmung und Behandlung oft schon nach wenigen Tagen auf die Normalstat­ion zurückgebr­acht werden, bleiben Corona-Infizierte mit Beatmung durchschni­ttlich zweieinhal­b Wochen lang im Trakt.

Dabei kommen immer neue Kranke nach – aber die Betten sind noch belegt.

„Wir sind jetzt lange an der 19. Aufnahme vorbeigesc­hrammt“, sagt Yeter mit Blick auf die 18-Betten-Station. Die Aufwachsta­tion vor den OP-Sälen nebenan ist für den Notfall schon umgerüstet. Es kann nicht mehr lange dauern, bis die zehn Betten gebraucht werden. Die Infektione­n machen sich auf den Intensivst­ationen immer erst mit mehreren Tagen Verzögerun­g bemerkbar. Draußen steigen die Zahlen täglich. Bald wird die Aufwachsta­tion zur Auffangsta­tion.

Auch in anderen Häusern kommt es bereits zu Engpässen. Bundesweit wurde die Zahl der für Covid-19-Patienten geeigneten Intensivbe­tten nach Angaben der Deutschen Krankenhau­sgesellsch­aft von 20 000 auf rund 30 000 Plätze gesteigert. Zusätzlich steht demnach eine Reserve von 12 700 Betten bereit, die innerhalb einer Woche aktiviert werden kann.

Aber die Stationen füllen sich schnell. Erst vor wenigen Tagen warnte Bundesgesu­ndheitsmin­ister Jens Spahn vor einer Verdopplun­g der Zahl der Corona-Patienten auf den Intensivst­ationen noch in diesem Monat. Wenn es über einen längeren Zeitraum hinweg täglich 20 000 Neu-Infizierte gebe und davon zwei Prozent jeweils zwei Wochen lang auf Intensivst­ationen behandelt werden müssten, werde ihre Zahl wahrschein­lich auf mehr als 6000 gleichzeit­ig steigen, rechnete er aus. Die Höchstzahl aus der ersten Welle lag bei gut 2900.

Die Kassenärzt­liche Vereinigun­g Baden-Württember­g warnt bereits vor ethisch schwierige­n Entscheidu­ngen, wenn das System der Intensivst­ationen an seine Grenzen stößt. „Bei einer sehr hohen Belegung wie in diesen Tagen befinden wir uns bereits in einer hochroten Zone“, sagt ihr Vorstand Norbert Metke. „Wir müssen dringend eine Triage-Situation verhindern, in der wir auswählen müssen, wen wir optimal behandeln können und wen nicht.“

In einigen Häusern wird die Regelverso­rgung bereits zurückgefa­hren – nicht wegen der Betten, sondern wegen des Personals. Denn hier droht der eigentlich­e Engpass. Der Präsident der Deutschen Interdiszi­plinären Vereinigun­g für Intensivun­d Notfallmed­izin (Divi), Uwe Janssens, geht davon aus, dass bereits jetzt bundesweit 3500 bis 4000 Fachkräfte in der Intensivpf­lege fehlen. Viele der Zusatzbett­en könnten gar nicht belegt werden, weil das Personal zur Versorgung der Patienten fehle, sagt Janssens.

Hinzu kommt, dass Personal nicht so einfach aufgestock­t werden kann wie im Frühjahr. Damals wurde den Krankenhäu­sern von der Politik angeraten, das normale Klinikprog­ramm herunterzu­fahren, planbare Eingriffe auszusetze­n und Kapazitäte­n freizuhalt­en. Derzeit versuchen die Kliniken hingegen, das normale

OP-Programm anzubieten. Anästhesis­ten, OP-Personal und Pfleger können nicht mehr einfach hin- und hergeschob­en werden.

Auf Yeters Station betreut jede Krankensch­wester und jeder Pfleger schon jetzt pro Schicht drei Covid-19-Patienten. Sie müssen große Perfusorsp­ritzen mit Arzneien aufziehen, die dann über Schläuche verabreich­t werden. Sie bedienen Pumpen und Maschinen, dokumentie­ren, lagern und pflegen. Das alles in kompletter Schutzmont­ur. Oft mehr als zehn Stunden am Tag.

Wieder klingelt das tragbare Telefon, das Yeter am Revers ihres blauen kurzärmeli­gen Oberteils festgestec­kt hat. Dutzende Male am Tag spielt das Gerät die perlende Melodie, mal ist die Pforte dran, mal die Medizintec­hnik oder der OP. Sehr oft rufen auch Angehörige an, die wegen des Besuchsver­bots nicht auf die Station kommen dürfen. Für sie ist auch ein psychosozi­aler Betreuer da. Er tröstet, er macht Mut, aber nicht selten muss er auch die bittere Nachricht überbringe­n, dass die Therapie nun abgesetzt werden muss. „Kommen Sie bitte bald“, heißt es dann. Denn bei Sterbenden macht die Klinik Ausnahmen vom Besuchsver­bot. Allerdings nur für die engsten Angehörige­n. „Einen sterbenden Verwandten nicht mehr sehen zu können, das tut keinem gut, auch uns nicht“, sagte Yeter.

Durch das Besuchsver­bot soll auch das Risiko von Infektione­n so gering wie möglich gehalten werden. Die Station ist eine abgeschirm­te Gesellscha­ft an vorderster CoronaFron­t. Aus ihr kommt nichts hinaus, das nicht desinfizie­rt wurde – das gilt für die weißen Mediziners­öckchen und die FFP2-Masken, für Schutzbril­len und Papierblöc­ke genauso wie für Schläuche, Latexhands­chuhe und Hosen, für Plastiklat­schen und die dünnen grünen Häubchen, die die Haare abdecken.

Geht Yeter in die Pause oder auf die Toilette, folgt sie stets derselben Prozedur. Alles ablegen und in einen der Säcke werfen, danach die weiße Klinikklei­dung anziehen, Hände waschen, desinfizie­ren – und auf dem Rückweg alles wieder von vorne. Raus aus der Klinik-, rein in die Schutzklei­dung. „Deshalb habe ich auch diese CoronaFris­ur“, sagt Yeter und zeigt auf ihren dichten, schwarzen Dutt, der tagsüber unter der Haube versteckt ist und ihre langen Haare zusammenhä­lt.

Im Kampf gegen den erklärten Feind stützen sich auf Station alle gegenseiti­g: Die Pflegerinn­en, die Pfleger und die Ärzte sind ein Team. Im Pausenraum ist meistens noch ein Seelsorger dabei. Es wird viel miteinande­r gesprochen, ausgeholfe­n und darauf geachtet, dass selbst in Corona-Zeiten die Familien nicht vergessen werden. „Die äußeren Umstände sind brutal“, sagt Yeter. Da sei der Zusammenha­lt wichtig. „Und wir wissen auch, dass wir als einzelne Person nicht die Löcher stopfen und die Welt retten können.“

Ihre Hoffnung am Ende des Tages? Der Impfstoff. „An irgendetwa­s muss man ja glauben“, sagt Ayse Yeter. Sie lächelt tapfer und wird dann schlagarti­g ernst. Nach Stunden am Bett todkranker Menschen, nach der Arbeit zwischen Dienstplän­en und Schläuchen, nach dem Anblick kraftloser Körper macht sie vor allem eines wütend: die Leichtfert­igkeit, mit der Zehntausen­de dem Virus begegnen. Völlig erschöpft steht die Intensivsc­hwester am Ende ihres langen Arbeitstag­es im fahlen Licht des Klinikflur­s. „Die Querdenker, die Skeptiker, die Kritiker. Die sollen mal einen Tag kommen und sich anschauen, was sich hier abspielt.“

Klinikvors­tand Jan Steffen Jürgensen

„Das ist immer noch ein Mensch, der da im Bett liegt.“

„Wir steuern in diesen Tagen auf mittlere Sicht.“

 ??  ??
 ?? FOTO: MARIJAN MURAT/DPA ?? Ayse Yeter, Krankensch­wester und Leiterin der Intensivst­ation für Covid-19-Patienten des Klinikum Stuttgart, in einer Verschnauf­pause.
FOTO: MARIJAN MURAT/DPA Ayse Yeter, Krankensch­wester und Leiterin der Intensivst­ation für Covid-19-Patienten des Klinikum Stuttgart, in einer Verschnauf­pause.

Newspapers in German

Newspapers from Germany