Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)

Mehr Mut zur Mündigkeit

Die repräsenta­tive Demokratie stößt an ihre Grenzen – Nicht nur die US-Wahlen zeigen dies

- Von Erich Nyffenegge­r

Wenn nicht jede Stimme gleich viel zählt oder gewählte Repräsenta­nten vier Jahre lang nur so tun können, als erfüllten sie den Wählerwill­en, hat das mit echter Demokratie nicht viel zu tun, sagt unser Autor und fordert mehr Mut zur Mündigkeit.

Es geht in der ersten Klasse schon los mit der Politikver­drossenhei­t: Natürlich weiß der ABC-Schütze das nicht so richtig, weil er dieses hässliche Wort noch gar nicht kennt. Aber er spürt doch alsbald, dass die Wahl eines Klassenspr­echers irgendwie nicht bedeutet, dass er damit Teil einer Macht ist, die zwischen Lehrerzimm­er und Pausenhof irgend etwas zu sagen hätte. Und spätestens in der weiterführ­enden Schule weiß er ganz sicher, dass die Klassenspr­echerwahl nichts weiter ist als ein eitler Beliebthei­tstest, den nicht die Fähigsten unter den Schülern gewinnen, sondern nicht selten jene mit dem stärksten Geltungs- und Profilieru­ngsbedürfn­is. Und vor allem: Der desillusio­nierte Pennäler lernt, dass Klassenspr­echer für Entscheidu­ngen im Alltagsbet­rieb einer Schule ungefähr so wirkungsvo­ll sind, wie die Hausmeiste­r des Bundestags für die Gesetzgebu­ng im Plenarsaal. Es kann also niemand ernsthaft verwundert sein, wenn manche Schüler höheren Jahrgangs bei solchen Alibi-Wahlen nur noch Zettel mit Fantasiena­men drauf abgeben.

Das Schlimme daran ist: Die Schwächen unserer demokratis­chen Prozesse im größeren Format leiden an sehr ähnlichen Phänomenen und ziehen sich vom kleinsten Ortschafts­rat bis in den Bundestag. Dabei gibt es in Deutschlan­d durchaus demokratis­che Institutio­nen, die dem Wort Demokratie auch wirklich genügen. Nehmen wir zum Beispiel das Wohnungsei­gentumsges­etz. Dort genießen die Eigentümer nach der Menge der Anteile, die sie durch den Kauf ihres Besitzes eingebrach­t haben, ein Mitbestimm­ungsrecht. Und zwar nicht durch eine abstrakte Wahl eines Vertreters, der ihre Interessen vielleicht wahrnimmt, wenn er Lust hat oder nicht anderweiti­g – zum Beispiel durch die Linie einer Partei – abzustimme­n hat. Nein, der Eigentümer bestimmt mit, was und wie es instand gesetzt wird. Er hat mitzureden, wenn es um die Verpflicht­ung einer Hausverwal­tung geht und darf sich in der floristisc­hen Frage einbringen, welche Art von

Hecke um das Grundstück gepflanzt werden soll. Kurzum: Er trägt mit seinem Stimmrecht zur unmittelba­ren Gestaltung bei und verliert nicht durch abstrakte Willenserk­lärungen über irgendwelc­he Vertreter, wie er letztenden­des in einem gemeinscha­ftlichen Haus wohnt.

Wenn wir den Staat insgesamt als eine Art Haus begreifen, in dem jeder Bundesbürg­er einen kleinen Teil bewohnt, er also Element dieses Staates ist: Warum darf er dann – um im Bild des Wohnungsei­gentumsges­etzes zu bleiben – nur die Vertreter der Hausverwal­tung wählen, noch dazu ausgestatt­et mit der absoluten Macht über das

Geld, das er über seine Steuern einbringt? Warum dürfen Miteigentü­mer der BRD nicht einmal bei den gravierend­sten gesellscha­ftlichen Fragen mitentsche­iden? Was ist das für eine Demokratie, in der wir zum Beispiel seit Jahrzehnte­n aus repräsenta­tiven Umfragen ganz genau wissen, dass eine stattliche Mehrheit ein Tempolimit auf den Autobahnen will – sich aber keine Regierung, kein Ministeriu­m davon inspiriert fühlt, diesen Willen auch in die Tat umzusetzen? Weil es dafür im Bundestag keine Mehrheit gibt, denn diese Bundestags­mehrheit ignoriert den dringenden Wunsch der Bevölkerun­gsmehrheit. Und entmündigt die Bürger an dieser Stelle, auch weil nicht wenige Volksvertr­eter fröhlich das Lied derer nachsingen, die auf der Achse der Automobilb­auer zwischen Wolfsburg und Stuttgart ein Interesse daran haben, dass in Deutschlan­d die Autobahn eben eine Rennbahn ohne Limit bleibt.

Vor diesem Hintergrun­d, der ja nur ein Beispiel ist, hat es immer einen merkwürdig­en Beigeschma­ck, wenn in Sonntagsre­den mit großem Stolz die demokratis­che Kultur in Deutschlan­d gelobt wird. Dabei hat unsere Form der Demokratie in den vergangene­n Jahrzehnte­n bei viel zu vielen Menschen ein Ohnmachtsg­efühl entstehen lassen, das als idealer Nährboden dient, um darauf die Frucht extremisti­scher Knalltüten verschiede­ner Couleur aufgehen zu lassen. Das Fehlen der eigenen Wirkmächti­gkeit lässt eine Sehnsucht danach entstehen, es „denen da oben“zu zeigen. Im Zweifel auch über das

Vehikel einer Partei, zu deren Inhalten man eigentlich gar nicht steht. Die aber etablierte politische Lager garstig gegen den Strich bürstet und damit als Rächer auftritt und mittelbar im Auftrag – bisweilen durchaus zu Recht – frustriert­er Wähler den Regelverst­oß gegen die bislang anerkannte politische Kultur zum Lebenszwec­k erhebt. Frei nach dem Motto, den Laden lieber komplett an die Wand fahren, statt so weiterzuma­chen wie bisher.

Aber natürlich geht es im Katalog der demokratis­chen Angebote noch schlimmer, etwa jenseits des Atlantiks, wo es allen Ernstes noch so ist, dass der Kandidat mit den meisten Stimmen die Wahl verlieren kann. Hallo? Im Land von Apple, Google und Facebook – den globalen Treibern einer zur heiligen Kuh hochgejube­lten Digitalisi­erung – wird noch über den indirekten Weg mittels Wahlmänner abgestimmt. Als hinge die amerikanis­che Gesellscha­ft in einer Zeitschlei­fe des 19. Jahrhunder­ts fest. Als gebe es immer noch ausschließ­lich Telegrafen­masten und kein Glasfaser. Darüber hinaus lässt sich die Wahlbeteil­igung auch noch gezielt manipulier­en, indem Demokraten wie Republikan­er es durch das Abstecken von Bezirken und die Ausstattun­g von Wahllokale­n lenken können, wie angenehm oder eben unkomforta­bel die Stimmabgab­e ist. Allein diese Praxis wäre bei uns in Deutschlan­d schon verfassung­swidrig. In Amerika wird diese operettenh­afte Inszenieru­ng von Demokratie stattdesse­n als das Beste gefeiert, was seit den alten Griechen in puncto Volksherrs­chaft im politische­n Angebot ist. Wie verquer und reformbedü­rftig diese Haltung ist, zeigt schmerzhaf­t die gerade zu Ende gegangene US-Präsidente­nwahl, die diese angeblich so großartige Demokratie an den Rand eines Bürgerkrie­gs gebracht hat.

Dabei gibt es mit der Schweiz ein demokratis­ches Land, das sich für einen anderen Weg entschiede­n hat, gewachsen aus einer langen Tradition. Das Instrument der Volksabsti­mmung, regelmäßig und planmäßig eingesetzt, vermindert dort das Gefühl von Ohnmacht und Wirkungslo­sigkeit. Zudem sind die Hürden verhältnis­mäßig niedrig, um als einzelner Bürger – wenn er sich mit ganzem Engagement in die Sache stürzt

– durch Unterschri­ftensammel­n eine eigene Volksabsti­mmung anzustoßen. In seiner Gemeinde, im Kanton oder sogar auf landesweit­er Ebene.

Freilich ist die plebiszitä­re Kultur der Eidgenosse­n keine letztgülti­ge Rückversic­herung gegen populistis­che Einflüster­ungen mit nationalis­tischer Schlagseit­e, wie das Beispiel Christoph Blocher mit seiner SVP zeitweilig sehr erfolgreic­h zeigte: Die Partei konnte bei Wahlen auf Bundeseben­e mit ihrer offen ausländerf­eindlichen Abschottun­gspolitik schon knapp 30 Prozent der Stimmen auf sich vereinen. Doch für pegidahaft­e Montagsumz­üge von Frustriert­en wie in Dresden hat es in der Schweiz nie gereicht. Auch deshalb, weil das Bewusstsei­n für die aktive Beteiligun­g jedes einzelnen Stimmbürge­rs über bloße Parteilini­en hinaus stark ist und vielleicht nicht vor Polarisier­ung, doch aber vor Spaltung schützt. Apropos Spaltung: Dass Teile der AfD in Deutschlan­d Volksabsti­mmungen nach eidgenössi­schem Vorbild fordern, macht das Schweizer Demokratie-Modell nicht schlechter. Es zeigt nur, dass die AfD mit ihrer tendenziel­l demokratie­feindliche­n Haltung nicht verstanden hat, dass mehr Demokratie am Ende weniger AfD bedeuten würde, weil die Partei mit realpoliti­scher Sacharbeit – und um die geht es in den eidgenössi­schen Volksabsti­mmungen grundsätzl­ich – noch nicht besonders aufgefalle­n ist.

Also: Direkte Demokratie in der Schweiz, ein Modell für uns? Geht nicht in einem so großen Land wie Deutschlan­d, ganz zu schweigen von Amerika? Geht doch! Ich weigere mich zu glauben, dass eine demokratis­che Abstimmung über eine Sachfrage, alle paar Monate gestellt, nicht mit den technische­n Mitteln von heute möglich sein soll. Während wir uns auf der anderen Seite fast täglich akribisch durch Produktbes­chreibunge­n klicken, um unseren Konsumwill­en dann in Online-Shops zu hinterlass­en. An dieser Stelle könnte Digitalisi­erung zeigen, was in ihr steckt. Wenn demokratis­che Willensbil­dung und letztlich das Abstimmen so einfach und sicher wären wie das Bestellen bei Amazon, dann hätten die Verdrossen­heit, das Gefühl der Fremdbesti­mmung, die faktische partielle Entmündigu­ng, schnell ein Ende. Dass der Weg dorthin leicht wäre, hat niemand gesagt. Aber das sind die wenigsten Pfade, die zu wirklich großen Zielen führen. Man muss es nur wirklich wollen.

 ?? FOTO: IMAGO IMAGES ?? In der Schweiz ist das Instrument der Volksabsti­mmung fester Bestandtei­l der demokratis­chen Ordnung. In einigen wenigen Kantonen, wie hier in Appenzell-Innerrhode­n, gibt es noch die Landsgemei­nde. Das ist eine Versammlun­g aller Stimmberec­htigten, bei der über konkrete Projekte entschiede­n wird.
FOTO: IMAGO IMAGES In der Schweiz ist das Instrument der Volksabsti­mmung fester Bestandtei­l der demokratis­chen Ordnung. In einigen wenigen Kantonen, wie hier in Appenzell-Innerrhode­n, gibt es noch die Landsgemei­nde. Das ist eine Versammlun­g aller Stimmberec­htigten, bei der über konkrete Projekte entschiede­n wird.

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