Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)
Wo das Licht nach Bienenwachs duftet
Nicht nur in der dunklen Jahreszeit ist die Wachszieherkunst der Zengerles im oberschwäbischen Grünkraut gefragt – Rund 60 Tonnen werden dort pro Jahr verarbeitet
waren: Bei einem Hoffest in Dresden beispielsweise wurden 14 000 Wachslichter verbraucht, bei der Krönung Georgs IV. im Jahr 1821 in London sollen auf 28 Lüstern jeweils 60 Kerzen entzündet worden sein.
Am 1. Dezember 1839 soll Johann Hinrich Wichern die erste Adventskranzkerze der Welt entzündet haben. Der evangelische Theologe und Sozialreformer gilt als Gründer des „Rauhen Hauses“in Hamburg-Horn. Dort wurden verwahrloste Kinder aus den Elendsvierteln der Hansestadt betreut. Die für die Kinder beinahe nicht erträgliche Wartezeit auf Weihnachten wollte Wichern verkürzen, indem er auf ein hölzernes Wagenrad 24 Kerzen steckte und sie nach und nach anzündete. Große weiße leuchteten an den Adventssonntagen, kleine rote an den Werktagen.
Doch zurück nach Grünkraut: Sind die Kerzen gezogen und bearbeitet, macht sich Jörg Zengerle an ein weiteres Verfahren für das Herstellen von Kerzen: das Extrudieren. Dafür presst er mit einer Strangpresse unter hohem Druck Bienenwachs um eine beheizte Hohlnadel, in der sich der Docht befindet, zusammen. Dabei entsteht ein Endlosstrang, der von Hand zu Stumpen- oder Leuchterkerzen verarbeitet wird, nachdem die Hohlnadel wieder aus dem Kerzenkern herausgezogen worden ist. Omar Bayo widmet sich derweil einem dritten Kerzen-Herstellungsverfahren: Er fertigt Bienenwachsbänder, aus denen er Platten mit Wabenstruktur herstellt. Legt man einen Docht ein, kann man sie zu Kerzen rollen. Natürlich kann man Kerzen auch in Formen gießen, in die bereits Dochte eingespannt sind.
Doch was darf sich überhaupt Kerze nennen? Das ist klar definiert.
Kerzen sind Lichtquellen, die aus einem Docht und einer festen Brennmasse bestehen. Diese muss dabei den Docht umgeben – wie beispielsweise bei den sogenannten Engelskerzen,
die ursprünglich Stabkerzen waren und dann, in die Länge gewalzt, „beim Abbrennen an einen Engel mit Flügeln erinnern“, wie Wachsziehermeister Jörg Zengerle schildert. Auch Teelichte, Stundenbrenner und Öllichte gehören zur Kategorie der Kerzen, obwohl die feste Brennmasse in einem Gefäß ist. Lampen und Laternen dagegen haben eine flüssige Brennmasse. Auch wenn mit Hülsen oder Dosen die Form einer Kerze imitiert wird, sind sie keine Kerzen – wie es auch Wunderkerzen und Fackeln nicht sind, da sie nur aus einer Wicklung bestehen und keinen Docht haben. Als Brennmassen werden bei der Kerzenherstellung neben Bienenwachs weitere Wachse wie Stearin oder Paraffin eingesetzt, darüber hinaus auch gehärtete Öle pflanzlichen oder tierischen Ursprungs wie zum Beispiel Palmwachs.
Wichtig bei der Herstellung von Kirchenkerzen: Sie müssen zehn Prozent Bienenwachs enthalten. Als sich selbst verzehrendes Licht gelten sie als Christussymbol. Übrigens: Bienenwachskerzen waren die ersten Duftkerzen überhaupt. Weil Bienen für ein Kilogramm Wachs je nach Standort und Umgebung zwischen sieben und zehn Kilogramm Honig produzieren müssen, gilt es noch immer als kostbares und rares Gut. Laut Angaben der Stiftung Warentest haben Bienenwachskerzen „einen sehr geringen Marktanteil von weniger als ein Prozent“.
Mit geübtem Auge und ruhiger Hand verziert derweil Susi Reizner an ihrem Arbeitsplatz in Grünkraut eine Kerze. Dafür schneidet sie mit einem scharfen Messer aus mit Pigmentfarben eingefärbten Wachsplatten einen Weihnachtsbaum aus, den sie mit einer feinen wächsernen
Goldgirlande, mit Mini-Christbaumkugeln und goldfarbenen Wachssternen verziert. Dann klebt sie noch den Schriftzug „Frohe Weihnachten“auf die Kerze. Die Wachsplatten stammen aus der großen Halle nebenan – dort schneiden sie Frauen gerade auf verschiedene Größen zurecht. Zudem stanzen sie allerlei Bordüren und Ornamente aus den Wachsplatten aus – Material, das Kerzenhersteller, aber auch Hobby-Kerzenverzierer fast in aller Welt verwenden. Besonders gefragt für Hochzeitskerzen seien derzeit Wachsbordüren, die Textilspitzen verblüffend ähnlich sehen, sagt Susi Reizner. Ansonsten verziert sie auch Kerzen für die Feste im Jahreskreis – und für besondere Anlässe.
Rund 60 Tonnen Wachs verarbeiten die 18 Zengerle-Mitarbeiter pro Jahr. Nachdem der Kerzenverbrauch in der Europäischen Union viele Jahre lang kontinuierlich gestiegen war, gab es im Jahr 2018 nach Angaben der Europäischen Kerzen-Vereinigung ECA einen Einbruch von fast sieben Prozent auf knapp 740 000 Tonnen beziehungsweise 1,44 Kilogramm Kerzen pro Kopf. Das „schwache Vorjahr“machte den Kerzenherstellern „auch 2019 noch schwer zu schaffen“, heißt es bei der ECA, die die Konkurrenz durch Billigimporte, beispielsweise aus China, Indien oder Vietnam beklagt, deren Qualität sich „oft nicht mit europäischer Ware vergleichen“lasse. Zudem müsse die Einhaltung der rechtlichen Bestimmungen dort „in vielen Fällen angezweifelt werden“. Die ECA rät deshalb zum Kauf von Kerzen, die das RAL-Gütezeichen Kerzen tragen. Zahlen zum Kerzenverbrauch im aktuellen Jahr stehen noch aus. Auch dazu, ob und wenn ja, inwieweit Corona den Kerzenverbrauch beeinflusst.
Elf Lehrlinge für das Handwerk der Kerzenhersteller sind derzeit bei der Bayerischen Wachszieher-Innung registriert, im April 2021 werden zwei Gesellen die Meisterprüfung ablegen. Derweil bewerben LED-Kerzenhersteller ihre Produkte als „schönstes Licht, gefahrenloses Flammenmeer, kosteneffektiv und dauerhaltbar“, die sogar mit Zeitschaltuhr oder Fernbedienung zu erwerben sind. Geht also der traditionellen Kerze bald die Luft zum Brennen aus? Sowohl Christiane Winkler, Geschäftsführerin der Bayerischen Wachszieher-Innung, als auch Jörg Zengerle sehen es gelassen. Es ist noch nicht allzu lange her, dass die Innung den 13. Dezember, als LuciaTag seit mehr als 200 Jahren in Schweden ein besonderer Feiertag, zum „Tag des Lichts“gemacht hat.
Auch an vielen anderen Tagen biete es sich an, Kerzen zu entzünden, betont Christiane Winkler. Sie verweist insbesondere in CoronaZeiten darauf, dass sie, wenn schon die Restaurants geschlossen bleiben müssen, mit ihrem Mann eben zu Hause ein Candle-Light-Dinner genieße, es sich mit Kerzen gemütlich mache. Und sie spricht von den vielen Pfarrbriefen, in denen Geistliche die Gläubigen eingeladen hätten, in Zeiten der Einschränkungen des Gemeindelebens als Zeichen der Solidarität eine brennende Kerze ins Fenster zu stellen. „Die Leute wollen das haben. Sie brauchen dieses Licht“, sagt auch Jörg Zengerle.
So kommt es, dass wohl nicht nur bei den Zengerles die Kerzen niemals ausgehen – im wahrsten Sinne des Wortes.
Wachsziehermeister Jörg Zengerle über das Geheimnis der perfekten Kerze
Mit sehr guten Rohstoffen und ganz viel Erfahrung.