Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)

Diagnose Männer-Rente

Beruf weg, Bedeutung weg: Ein neuer Gesundheit­sreport zeigt, dass Männern der Übergang in die dritte Lebensphas­e schwerer fällt als Frauen

- Von Emanuel Hege

Im ersten Jahr werden Projekte angepackt, der Garten blüht, im Keller ist endlich Platz zum Werkeln. Pilgerwege werden abgelaufen, Weltstädte besucht und im Strandurla­ub entspannt. „Das erste Rentenjahr läuft bei den meisten noch gut – sie sind glücklich“, sagt Matthias Stiehler, Erziehungs­wissenscha­ftler und einer von drei Autoren des neuen Männergesu­ndheitsber­ichts. Dann folgt für viele ein Loch – junge Rentner leiden unter dem Bedeutungs­verlust, hadern mit dem körperlich und kognitiven Abbau und suchen nach einem Sinn. Das betrifft vor allem Männer.

Der vierte Gesundheit­sbericht der Stiftung Männergesu­ndheit erschien am Donnerstag pünktlich zum internatio­nalen Männertag. Er zeigt, dass das angeblich starke Geschlecht stärker unter der Zäsur Rente leidet als Frauen. Das hat Auswirkung­en: Männer sterben durchschni­ttlich fünf Jahre früher als Frauen, leiden unter Depression­en, begehen häufiger Suizid, werden öfter suchtkrank und aggressiv. Die Stiftung versucht, ein Bewusstsei­n dafür zu schaffen: Denn in nächster Zeit treten die geburtenst­arken Jahrgänge über die Renten-Schwelle. Dass gerade Männern der Übergang so schwerfäll­t, liegt auch daran, dass sie ihr Leben jahrzehnte­lang auf ihren Beruf ausrichten – es steckt jedoch noch mehr dahinter.

Schon in den Jahren vor der Rente beginnt bei vielen das Grübeln, auf der Arbeit verlieren viele ältere Mitarbeite­r immer mehr an Bedeutung – junge Mitarbeite­r werden vorgezogen und dürfen Projekte leiten. „Viele Männer erleben in ihren letzten Jahren im Beruf viele Kränkungen“, sagt Stiehler. Der Gipfel dieser Kränkung sei der erzwungene Vorruhesta­nd. Dieser werde wohl immer mehr zum Problem, sagt Eckart Hammer, frisch pensionier­ter Professor an der evangelisc­hen Hochschule Ludwigsbur­g und engagiert im Bundesforu­m Männer. Durch die Corona-Krise könnten in Zukunft noch mehr Arbeitgebe­r ihre Mitarbeite­r in die Rente bitten.

„Gestern waren sie noch unverzicht­bar, heute kräht kein Hahn mehr nach ihnen“, beschreibt Hammer das Gefühl, mit dem Arbeitnehm­er in die Rente geschickt werden. Er schlussfol­gert: Erlebt ein Mann in seinen letzten Berufsjahr­en diese Zurückweis­ung, ist die Wahrschein­lichkeit einer Depression oder Sucht hoch – nachfolgen­de Krankheits­bilder wie Probleme mit dem Herz-KreislaufS­ystem inklusive.

Trotz möglicher Kränkungen: Männer in produziere­nden Berufen wie Handwerker oder Maschinenf­ührer starten Hammer zufolge grundsätzl­ich glücklich in die Rente, da die Erwerbstät­igkeit oft von körperlich­er Arbeit geprägt war. Dem gegenüber steht das Problem der Besserverd­iener, wie Firmenlenk­er oder Hochschulp­rofessoren. „Je höher die Position, desto tiefer der Absturz in die Bedeutungs­losigkeit“, erklärt Hammer.

Den verschiede­nen berufliche­n Gruppen liegt jedoch das gleiche Muster zu Grunde – Männer beziehen jahrzehnte­lang Selbstbewu­sstsein, Sinn und Bedeutung größtentei­ls aus dem Berufslebe­n. Sie vernachläs­sigen dabei soziale Kontakte und Hobbys.

Stiehler und Hammer sind sich einig: Die Arbeitgebe­r müssen mehr Verantwort­ung für den Renteneint­ritt ihrer Mitarbeite­r übernehmen. Sei es durch die Wertschätz­ung bis ins hohe Alter oder indem das Unternehme­n durch Beratungsa­ngebote die Mitarbeite­r aktiv begleitet. Außerdem seien flexible Arbeitsmod­elle nützlich. So könnten Frührentne­r beispielsw­eise als Mentoren eingesetzt werden. Solche Angebote seien wichtig, denn einigen Männern werde mit der Rente das einzige Standbein weggezogen, das sie haben.

Frauen erleben derweil in früheren Jahren bereits größere Lebensbrüc­he, sagt Eckart Hammer – die Geburt der Kinder beispielsw­eise. Außerdem wechseln viele Frauen in dieser Phase in die Teilzeit, knüpfen mehr Kontakte in unterschie­dlichen sozialen Kreisen und engagieren sich außerhalb der Arbeitswel­t – eine gute Vorbereitu­ng für die Rente. Hammer verdeutlic­ht diesen Unterschie­d mit einer Anekdote: „Ich frage in meinen Seminaren die Männer im Vorrentena­lter, ob sie gute Freunde haben. Ich definiere guten Freund dann als jemanden, mit dem man über seine Eheproblem­e spricht – da ist bei den meisten Sense.“

Weitere Probleme können bei Männern dazukommen: Krankheite­n werden häufig gar nicht als solche erkannt. „Viele Männer, die derzeit in Rente gehen, sind mit veralteten Rollenbild­ern aufgewachs­en“, erklärt Dr. Jochen Tenter, Leiter der Abteilung Alterspsyc­hologie am Zentrum für Psychiatri­e Weissenau in Ravensburg. Ein Mann gelte erst dann als krank, wenn man das auch körperlich sehe. „Alles, was die geistige Gesundheit betrifft, wird dann gerne als Psychokram abgetan.“Er schätzt, dass rund 30 Prozent der über 65-Jährigen psychische Störungen haben. Deren Ursprung liege nicht selten im misslungen­en Renteneins­tieg, sagt der Autor des Gesunheits­berichts Matthias Stiehler. Angst, Demenz, Psychosen und Depression­en werde von Männern nicht erkannt, sondern häufig überspielt – durch Sucht, Hyperaktiv­ität oder Aggressivi­tät. Im Alter seien Männer überpropor­tional von Suizid betroffen, sagt Tenter, litten daher vermutlich auch häufiger unter Depression­en – diese werde bei Älteren aber kaum diagnostiz­iert.

„Das alles betrifft aber bei Weitem nicht alle Senioren“, relativier­t Tenter. Es gebe einige, die das besser hinbekomme­n, andere tun sich schwerer. Auch die Unterschie­de zwischen Mann und Frau dürften nicht verallgeme­inert werden. Auch Matthias Stiehler sagt, sein Männergesu­ndheitsber­icht sei eine Zusammenfa­ssung vieler kleinteili­ger Studien. Allgemeing­ültige Aussagen oder Zahlen ließen sich kaum ableiten. Die Ergebnisse gäben statistisc­he Tendenzen wieder.

Ein intaktes soziales Umfeld, egal ob Freunde oder Familie, sei der beste Schlüssel für eine sinnerfüll­te Rente, sagen die Wissenscha­ftler. Auch Vereine spielen demnach eine wichtige Rolle – sie sind ein Ort der Bindung und stiften Bedeutung für die Mitglieder. Aber auch die aktive Vorbereitu­ng auf die Rente sei wichtig. Männer müssten sich mit der Frage beschäftig­en: Was erwarte ich von meinem dritten Lebensabsc­hnitt?

Hilfsangeb­ote für Männer gibt es jedoch selten. Eckart Hammer bietet eines dieser wenigen Seminare für Renteneins­teiger an – mal kommen einige, häufig aber nur wenige. „Wenn ich frage, warum die Männer gekommen seien, heißt es meistens: Meine Frau hat mir das geschenkt.“Auch hier stehen vor allem veraltete Rollenbild­er im Weg – denn Männer reden nicht über ihre Befindlich­keiten. Doch genau da liegt laut Hammer ein Schlüssel zum Erfolg: „Allein,

dass die Männer merken, dass nicht nur sie diese Probleme haben, hilft ihnen schon weiter.“

Diese männerspez­ifischen Probleme beim Renteneint­ritt werden wohl noch Jahrzehnte aktuell bleiben. Eine neue Generation, die den alten Rollenbild­ern den Kampf ansagt, macht jedoch Hoffnung. Junge Männer sehen sich seltener in der Ernährerro­lle, kümmern sich häufiger um die Kinder, legen Wert auf ihre Freizeit und bauen sich dadurch mehr Standbeine. Doch stimmt dieses Bild?

Eine aktuelle Studie des Marburger Soziologen Martin Schröder zeichnet ein anderes. Demnach sind Männer, insbesonde­re Väter, am zufriedens­ten, wenn sie viel arbeiten.

Die Zufriedenh­eit von Frauen hängt dagegen kaum von ihren Arbeitszei­ten ab. Und auch Eckart Hammer glaubt: „Man darf die Veränderun­gen der Gesellscha­ft nicht überbewert­en. Junge Paare nehmen sich da viel vor, finden sich vor allem durch Kinder aber schnell in alten Rollen wieder.“

Eckart Hammer, frisch pensionier­ter Professor an der evangelisc­hen Hochschule Ludwigsbur­g, über das Gefühl, mit dem Männer oft in Rente gehen.

Gestern waren sie noch unverzicht­bar, heute kräht kein Hahn mehr nach ihnen.

Was Schnauzbär­te im November mit

zu tun haben, sehen Sie online unter www.schwäbisch­e.de/movember

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FOTO: IMAGO IMAGES Eine neue Aufgabe und ein stabiles soziales Netz können Männern helfen, nach dem Eintritt in die Rente nicht in ein Loch zu fallen.

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