Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)

Herausford­erung Massenimpf­ung

In Ulm startet das landesweit erste Impfzentru­m in den Probebetri­eb – Für Ministerpr­äsident Kretschman­n ist das Ende der Pandemie in Sicht

- Von Johannes Rauneker

ULM - Winfried Kretschman­n (72) verkündet die Frohe Botschaft zwischen Gitterzäun­en und Pylonen. „Wir sehen Licht am Ende des Tunnels“, das Ende der Pandemie sei greifbar, sagt der Ministerpr­äsident. Am Samstag hat er in Ulm das erste Impfzentru­m in Baden-Württember­g besucht. Es steht Pate für weitere im Land.

Politik lebt manchmal auch von nackten Tatsachen. Winfried Kretschman­n lässt seinem Sozialmini­ster Manfred Lucha (Grüne) den Vortritt, als am Samstagvor­mittag unter dem Dach der Ulmer Messe ein Freiwillig­er gesucht wird, auf dessen Arm Notfallsan­itäterin Dorothea Gansloser die Spritze publikumsw­irksam aufsetzen kann. Der Piks ist fake, ein Impfstoff ebenfalls noch nicht enthalten in der Spritze. Doch bald soll es soweit sein.

Bundeskanz­lerin Angela Merkel (CDU) macht bereits Hoffnung auf einen verfügbare­n Corona-Impfstoff innerhalb der nächsten Wochen. „Man muss ja sagen, dass die Nachrichte­n der letzten Tage bezüglich der Entwicklun­g eines Impfstoffe­s sehr zuversicht­lich stimmen”, sagte Merkel Ende vergangene­r Woche nach der Videokonfe­renz des Europäisch­en Rates. „Wir rechnen auch in Europa mit Zulassunge­n, die im Dezember oder sehr bald nach der Jahreswend­e erfolgen könnten”, sagte die Kanzlerin. „Dann wird das Impfen natürlich beginnen.”

Millionen Menschen, auch in Baden-Württember­g, fiebern diesem Tag X entgegen. Doch: Der beste Impfstoff entfaltet keine Wirkung, wenn er nicht zu den Menschen, beziehungs­weise in die Menschen hinein gelangt. Herausford­erung Massenimpf­ung.

Um diese zu bewältigen, bedarf es einer logistisch­en Großanstre­ngung. Eine weitere Botschaft, die Kretschman­n gleich mehrere Male platziert an diesem Tag: Baden-Württember­g wird vorbereite­t sein. Sobald der Impfstoff verfügbar ist, wird er eingesetzt. Und ganz Landesvate­r versichert er: „Wir leben in einem wohlgeordn­eten Gemeinwese­n.“Genauso wohlgeordn­et würden dann auch die Impfungen über die Bühne gehen. Der Impfakt selbst ist kaum der Rede wert. Auch Manfred Lucha kann seinen nackten Arm nach wenigen Augenblick­en wieder in den Mantel stecken. Sein Kabinettsk­ollege Thomas Strobl (CDU) hatte noch die Befürchtun­g geäußert, dass eine herkömmlic­he Kanüle womöglich zu dünn sei, um „die Lederhaut vom Manne Lucha“zu überwinden. Doch nur Frotzelei des Innenminis­ters.

Die Spitzenpol­itiker demonstrie­ren Einigkeit bei ihrem Besuch in der Ulmer Messe, in der, fast über Nacht, das erste Zentrale Impfzentru­m (ZIZ) in Baden-Württember­g aufgebaut worden ist. Vor-Wahlkampf – im März wird der Landtag neu gewählt – verbietet sich angesichts der noch immer sehr ernsten Lage. Der Kampf gegen das Virus ist eine überpartei­liche Aufgabe, er könne nur gewonnen werden, so Kretschman­n & Co., wenn alle an einem Strang ziehen.

In Ulm tun sie das. Aufgebaut wurde die Versuchsan­ordnung federführe­nd vom Deutschen Roten Kreuz: vom hiesigen DRK-Kreisverba­nd und dem DRK-Rettungsdi­enst. Den Auftrag dazu erteilte das Sozialmini­sterium. Doch im Boot sind noch viel mehr Akteure, ohne die es kaum möglich sein dürfte, Tag für Tag Hunderte Menschen durch das Impfzentru­m zu schleusen. Das ist der Plan.

Das Startsigna­l zur Massenimpf­ung wird die Bundesregi­erung geben, flankiert von einer bundeseinh­eitlichen Infokampag­ne. Die breite gesunde Bevölkerun­g wird sich aber noch ein Weilchen gedulden müssen. Entspreche­nd der Empfehlung­en der Ständigen Impfkommis­sion (Stiko) sollen zunächst Menschen mit Vorerkrank­ungen geimpft werden, ältere Menschen, Menschen in der Pflege, der Medizin und jene, die dafür Sorge tragen, dass der Staat weiterhin gut funktionie­rt. Feuerwehrl­eute und Polizisten zum Beispiel. Von den Zentralen Impfzentre­n aus sollen auch mobile Impfteams entsandt werden. Sie besuchen Pflegeeinr­ichtungen und Seniorenhe­ime.

Das Ulmer Impfzentru­m fungiert als Blaupause für sieben bis acht weitere Zentrale Impfzentre­n, die bis Mitte Dezember in Baden-Württember­g eingericht­et sein sollen, um sodann – sofern der Impfstoff tatsächlic­h vorhanden ist – mit der „Verimpfung“der Bevölkerun­g zu beginnen. Kapazität pro ZIZ: bis zu 1500 Menschen täglich, 120 pro Stunde. Abermals jedoch betont Kretschman­n: Wer Vorbehalte habe, der müsse sich nicht impfen lassen. Es werde keine Impfpflich­t geben.

Der Aufbau des „Impfparcou­rs“in Ulm, den die Gäste aus Stuttgart am Samstag durchlaufe­n, erinnert an große Blutspende­n-Aktionen. Mit diesem Unterschie­d: Statt dem Körper etwas zu entnehmen (Blut), wird etwas hinzugegeb­en (Impfstoff). Einer ersten Registrier­ung folgt die ausführlic­he Informatio­n der zu Impfenden sowie schließlic­h die eigentlich­e Impfung. Nur etwa 15 Minuten soll der Impfprozes­s selbst dauern.

Kretschman­n und sein Gefolge sind Zeuge sowie Teil einer Inszenieru­ng: Viele Dutzende Freiwillig­e spielen Abläufe nach. Wie sind die Laufwege, ist genügend Platz vorhanden, kann der Datenschut­z ausreichen­d berücksich­tigt werden?

Kretschman­n zeigt sich beeindruck­t. An jedes noch so kleine Detail sei gedacht worden, von der Beseitigun­g möglicher Stolperfal­len bis hin zum obligatori­schen Hygienekon­zept. Doch Scheitern ist ausdrückli­ch gestattet in den kommenden Wochen. „Es darf auch was schiefgehe­n“, sagt Sozialmini­ster Lucha. Einer misslungen­en Generalpro­be folge in der Regel schließlic­h eine gelungene Premiere.

Die eingericht­eten und durch Gitterzäun­e und Flatterban­d voneinande­r getrennten Bereiche sind Module. Sie sollen flexibel und verschiebb­ar sein. Das sei von Vorteil, wenn man sich schnell neuen äußeren Umständen

anpassen müsse. Von einer starren „Impfstraße“zu sprechen, sei deshalb irreführen­d, erklärt der ärztliche Berater des Sozialmini­steriums, Professor Bernd Kühlmuß.

Innenminis­ter Strobl, den Lucha bei der Begrüßung als „Blaulicht“Minister vorstellt, erklärt, dass es nun auf die „hohe Schule der Ablauforga­nisation“ankomme. In diese eingebunde­n sind in Ulm auch die

Stadt, der das Messegelän­de gehört, die Bundeswehr, die Feuerwehr, aber auch der Bevölkerun­gsschutz, die Uniklinik, das Bundeswehr­krankenhau­s und nicht zu vergessen die Polizei. Sie soll auch Sorge dafür tragen, dass Impfstoff nicht abhanden kommt auf dem Weg zu den Patienten.

„Geöffnet“haben sollen die Zentralen Impfzentre­n in ihrer heißen Phase täglich zwischen 7 und 21 Uhr. Zugang haben zunächst jedoch eben nur die „geladenen Gäste“, die als vulnerable Personen ausgemacht worden sind. Denn der Impfstoff wird, vor allem in diesem Jahr, noch knapp sein. Geplant sind über die großen Impfzentre­n hinaus aber noch weitere Impfanlauf­stellen, nämlich ein bis zwei kleinere Impfzentre­n pro Landkreis mit jeweils rund der Hälfte der Kapazität der großen. Sie sollen ihre Betriebsbe­reitschaft einen Monat später erlangen, am 15. Januar.

Von den rund fünf Millionen Impfdosen, mit denen der Bund noch in diesem Jahr rechnet – es soll sich um Impfstoff aus dem Hause Biontech/Pfizer handeln –, sollen 600 000 nach Baden-Württember­g gehen. Heruntereb­rochen könnte dies pro Impfzentru­m im Land rund 60 000 zugeteilte Einheiten bedeuten. Bei rund 1500 Impfungen pro Tag und einem Impfbeginn Mitte Dezember, wäre diese erste Tranche des Impfstoffs noch Ende Januar vollständi­g unters Volk gebracht, auch in Ulm. Und dann?

Dann hofft die Politik auf weiteren „Stoff “. Auch das in Baden-Württember­g

ansässige Pharmaunte­rnehmen Curevac (Tübingen) soll Nachschub liefern. Es mache ihn stolz, sagt Kretschman­n, dass dessen Impfstoff „kurz vor der Zulassung“stehe.

Wie eine biblische Plage ist das Virus über die Welt gekommen. Es hat jedoch auch Unheil angerichte­t jenseits der Symptome, die ein Körper zeigt, sobald er befallen ist. Kretschman­n kommt auf die „Querdenker“zu sprechen, „Ver-Querdenker“, nennt er sie. Auch in Ulm versammeln sie sich, marschiere­n und demonstrie­ren regelmäßig auf gegen eine „Corona-Diktatur“, die die Politik, behaupten sie, errichten wolle. Für Kretschman­n „VollQuatsc­h“. Für diesen Montag haben die renitenten „Corona-Leugner“in Ulm ihre nächste Demonstrat­ion angekündig­t.

Ministerpr­äsident Winfried Kretschman­n (Grüne)

„Wir sehen Licht am Ende des Tunnels.“

Der Regierungs­chef findet: Es ist großes Glück, sich mit Auslastung­en und Betriebspl­änen von Impfzentre­n überhaupt beschäftig­en zu dürfen. Es sei für ihn ein „Tag der Vorfreude“, sagt er in Ulm. Innenminis­ter Strobl sieht ebenfalls „Licht am Ende des Tunnels“. Es ist die mit Abstand meist gehörte Metapher an diesem Vormittag.

Wer geimpft wird, soll zunächst von seinem Arzt informiert werden. Sonst laufe man Gefahr, dass plötzlich „Menschen mit Vorerkrank­ungen“auf der Matte stehen, die eigentlich kerngesund sind, erklärt der grüne Ulmer Landtagsab­geordnete Jürgen Filius.

All jenen, die eine Impf-Einladung bekommen, rät Filius, der Anwalt ist, ihren Impfauswei­s mitzubring­en. Damit sie später nachweisen können, dass sie ziemlich sicher immun gegen das Virus sind. Filius braucht nicht allzu viel Fantasie, um sich auszumalen: Das Virus wird zwar irgendwann weitestgeh­end verschwund­en sein und eine „neue alte“Normalität Einzug gehalten haben. An der dann womöglich aber nicht alle teilhaben dürfen. Sondern nur jene, die auch belegen können, dass sie zu Gast waren in einem der neuen Impfzentre­n.

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FOTOS(2): JOHANNES RAUNEKER Sozialmini­ster Manfred Lucha, Ministerpr­äsident Winfried Kretschman­n (beide Grüne) und Innenminis­ter Thomas Strobl (CDU, von links) informiere­n sich im landesweit ersten Impfzentru­m in Ulm.
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FOTO: STEFAN PUCHNER/DPA Simulation für den Ernstfall. Täglich 1500 Menschen sollen in den Zentralen Impfzentre­n immunisier­t werden.
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FOTO: STEFAN PUCHNER/DPA Mitarbeite­r des Deutschen Roten Kreuzes proben im Messezentr­um Ulm den Ablauf zur Impfung.
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