Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)
Corona-Krise: gravierende Folgen für Kinder
Kinder sind abgehängt und vereinsamen – Eltern und Lehrer im Kreis Lindau sorgen sich
KREIS LINDAU - Das Fußballtraining fällt aus, treffen mit Freunden ist nur eingeschränkt möglich, und so mancher muss ganz zu Hause bleiben. Auch Kinder trifft die Pandemie hart. Fast 50 000 Schülerinnen und Schüler sind in Bayern und davon Hunderte im Landkreis Lindau in Quarantäne. Manche, weil sie selbst positiv getestet wurden, andere, weil sie Erstkontakt zu einem Infizierten hatten. Auch im Leben des zehnjährigen Philip ist einiges anders. Sein Vater macht sich große Sorgen. Denn Philip verhält sich anders, er ist verunsichert, hat Ängste. Und Fachleute sind sich einig: Die Corona-Krise wird langfristige Folgen für Kinder haben.
Immer öfter ist Philip verunsichert und in Sorge, dass alles gut wird. „Auf der einen Seite ist er sehr schutzbedürftig und verhält sich teilweise so, wie vor ein paar Jahren, als er noch jünger war“, sagt sein Vater im Gespräch mit der „Schwäbische Zeitung“. Zum Schutz des Kindes halten wir die Familie anonym.
Auf der anderen Seite kümmere sich Philip um Dinge, um die er sich als Kind gar nicht kümmern müsse. „Er fragt zum Beispiel oft, ob es den Eltern und Oma und Opa gut geht“, erzählt der Vater. Er glaubt, ein Grund dafür sei auch die Kommunikation der Politik über die Maßnahmen und zur Krise.
Gewichtszunahme, Vereinsamung, schlechtere geistige Entwicklung, Konzentrationsschwäche: Das sind nur einige von vielen Folgen, die Kinderarzt Dr. Harald TegtmeyerMetzdorf für Kinder wegen der Krise sieht. Immer häufiger hat der Mediziner Kinder bei sich in der Praxis, denen es gesundheitlich schlecht geht. Da ist zum Beispiel der Neunjährige, der in knapp einem halben Jahr acht Kilo zugenommen hat. „Das ist eine überproportionale Gewichtszunahme und nicht normal“, sagt Tegtmeyer-Metzdorf, der auch Kinder- und Jugendpsychologe ist. In den letzten Wochen hatte er drei solcher Fälle. Der Grund: Die Bewegung draußen fällt weitestgehend weg, das Essen bekommt eine wichtigere Stellung, und die Kinder konsumieren mehr Medien. Eine Studie vom Sommer des Instituts für Wirtschaftsforschung besagt: Die Zeit, die Kinder mit Fernsehen, Handy und Computerspielen verbringen, ist während der Corona-Pandemie von vier Stunden auf fünfeinhalb angestiegen.
Die Eltern von Philip können ihn zu Hause gut auffangen und wissen, dass sie ihm Zeit geben müssen, um mit allem klar zu kommen. Der Vater weiß aber auch, dass das nicht selbstverständlich ist. „Welche Herausforderungen haben dann wohl Eltern, die weniger in der Lage sind, sich um ihre Kinder zu kümmern?“, fragt er sich. Zum Beispiel, weil sie alleinerziehend sind. Denn: Manche Familien können das, was Philips Familie kann, nicht leisten.
Dass vor allem sozial schwache Familien von der Krise betroffen sind, stellt auch der Kinderarzt Tegtmeyer-Metzdorf fest: „Für Kinder aus prekären Verhältnissen ist das Problem größer als für Kinder aus akademischem Haushalt.“Wenn Kinder zu Hause beschult werden, würde sich diese Kluft vergrößern. „Durch die zunehmende Kinderbetreuung werden die Eltern an ihre Grenzen geführt“, sagt TegtmeyerMetzdorf. „Dann haben sie Schuldgefühle, weil sie die gewünschte Zuwendung nicht geben können.“
Zu Problemen könne es auch dann kommen, wenn es große Sprachbarrieren zu Hause gibt, sagt auch Ute Müller, Schulleiterin an der Grundschule Reutin-Zech. Eltern, die Probleme mit der Sprache haben, fällt es oft schwerer, sich mit den Kindern um den Unterrichtsstoff zu kümmern.
Als die Schulen geschlossen waren, wurden die Schülerinnen und Schüler an der Grundschule digital mit Tablets beschult. Das wird auch jetzt teilweise gemacht. Wenn digitaler Austausch mit den Familien nicht möglich war, wurden Pakete geschnürt und den Kindern nach Hause gefahren. „Für die Eltern ist das eine wahnsinnige Herausforderung“, sagt Müller. Aktuell könnten fast alle der rund 370 Schülerinnen und Schüler am Präsenzunterricht teilnehmen. Die Schulleiterin ist sehr froh, dass aktuell Unterricht stattfinden kann.
Die Situationen an den Schulen verändern sich. Stefan Fürhaupter ist Jugendsozialarbeiter an Schulen. Er und seine Kollegen im Landkreis haben seit Beginn der Pandemie besonders viel zu tun.
„Wir erleben turbulente Zeiten. Die Kinder sind gefühlt weniger im Lot als sonst“, sagt Stefan Fürhaupter. Gefühlt würden sich Schülerinnen und Schüler immer häufiger streiten. Es gebe Konflikte, die sich noch am Tag lösen lassen, andere sind tiefergehend. „Kinder sind abgehängter und haben zum Beispiel Probleme, bei dem Unterrichtsstoff mitzukommen“, sagt Fürhaupter.
Gründe dafür gibt es viele: Zum einen sei für Kinder eine geregelte Struktur in den Klassen sehr wichtig. „Das fängt schon damit an, dass die Klassen in der Mittelstufe zum Beispiel immer noch geteilt sind und in Gruppen unterrichtet werden“, sagt Fürhaupter. Das war auch bei den Grundschülern von März bis zu den Sommerferien so. „Danach mussten sie erst mal wieder lernen, wie es ist, mit so vielen Unterricht zu haben“, sagt Fürhaupter. „Und das unter erschwerten Bedingungen.“
Denn: Soziale Interaktionen, wie Gruppenspiele oder ähnliches, sind nicht erlaubt und dadurch seien Hürden gesetzt. „Es ist spürbar, was da fehlt“, sagt Fürhaupter. Die Eltern von Philip hätten ihn gerne im Herbst in einem Sportverein angemeldet, im Alpenverein zum Beispiel oder zur Leichtathletik. Das geht gerade nicht, wäre aber genau jetzt „dringend notwendig“, findet sein Vater. „Der körperliche Ausgleich wäre wichtig, aber auch das Zusammentreffen mit anderen Kindern.“
Der Kinderpsychologe Harald Tegtmeyer-Metzdorf fasst es so zusammen: „Kinder brauchen Kinder“. Seien Kinder nämlich ohne Gleichaltrige fehle ihnen der Austausch. „Die Vereinsamung nimmt zu, die Kinder entwickeln sich weniger gut“, sagt Tegtmeyer-Metzdorf. Durch die Krise steige das Risiko für psychische Auffälligkeiten. Auch psychosomatische Störungen, wie Einschlafprobleme oder Kopf- und Bauchschmerzen, nehmen zu.
Und außerdem: „Die Gefahr, dass häusliche Gewalt zunimmt, steigt“, sagt Stefan Fürhaupter. Denn auch der Druck auf die Eltern nimmt zu. Wenn sie Situationen mit mehreren Kindern bewerkstelligen müssen und wegen der Arbeit Druck haben, schlägt das auf das Gemüt. Und: „Familien, die eh schon abgehängt sind, werden weiter abgehängt“, sagt Stefan Fürhaupter. Dem Jugendsozialarbeiter an der Grundschule ist es wichtig, dass er jedes „seiner Kinder“auch jeden Tag sieht. Sonst sei es schwer, den Kontakt zu den Kindern zu halten. „Einfach damit ich weiß, es geht ihnen gut.“