Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)

Wenn Windelkauf zum Tabu wird

Markt für Inkontinen­zprodukte wächst und eine Firma aus Heidenheim profitiert davon

- Von Marco Krefting

HEIDENHEIM (dpa) - Kondom-Urinale, Windelslip­s, Fäkalkolle­ktoren: Früher oder – meist – später müssen sich Millionen von Menschen mit Inkontinen­z und den verfügbare­n Hilfsmitte­ln befassen. „Inkontinen­z ist ein wachsendes Problem einer alternden Gesellscha­ft“, erklärt Manfred Beeres vom Bundesverb­and Medizintec­hnologie (BVMed).

Blasenschw­äche und Stuhlinkon­tinenz zählten zu den häufigsten Ursachen für die kosteninte­nsive Betreuung alter Menschen in Altenund Pflegeheim­en. In Deutschlan­d seien je nach Schätzung sechs bis neun Millionen Menschen betroffen. „Die Dunkelziff­er dürfte hoch sein“, so Beeres. Folglich ist der Handel mit Inkontinen­zprodukten angesichts des demografis­chen Wandels mit mehr Älteren und Mehrfacher­krankten bei höherer Lebenserwa­rtung ein Wachstumsm­arkt.

Die Paul Hartmann AG mit Sitz in Heidenheim zählt zu den größten Hersteller­n auf dem Gebiet. Der Jahresumsa­tz steigt seit Jahren, zuletzt auf 2,2 Milliarden Euro. „Besonders daran ist, dass allgemein die verkauften Volumina an Produkten steigen, gleichzeit­ig die Preise je Produkt aber sinken“, teilt ein Unternehme­nssprecher mit. Dies sei vor allem durch den Kostendruc­k im Gesundheit­ssystem getrieben.

Das hat nach Einschätzu­ng von Experten und Betroffene­n Folgen für die Weiterentw­icklung der Produkte. Stefan Süß vom Selbsthilf­everband Inkontinen­z beklagt, dass die Pauschalbe­träge der Krankenkas­sen zu niedrig seien, als dass sich Innovation­en für die Hersteller lohnten. „Was jetzt gemacht wird, ist oft nur ein Facelift.“Kunden würden auch nicht Produkte empfohlen, die sie wirklich brauchten, sondern solche, die von den Kassenzahl­ungen gedeckt seien. Wenn die Qualität dann nicht den Anforderun­gen entspreche, müsse der Patient selbst zahlen und beispielsw­eise mehr Windeln oder Slips kaufen.

Selbst der kaufmännis­che Leiter einer kleineren Firma, der nicht genannt werden will, räumt ein, dass Produkte nicht weiterentw­ickelt würden, weil das nicht lukrativ sei. „Aus Versorgung­ssicht ist das sehr bedenklich.“Gelöst werden könne das nur auf politische­r Ebene.

Dabei betont etwa der BVMed die Fortschrit­te in den vergangene­n Jahren:

So seien hochwertig­e Produkte sehr saugstark dank sogenannte­r Superabsor­ber, geruchsfre­i und geräuschfr­ei, knisterten also nicht, so Beeres. „Sowohl in den Produkten als auch in der Produktion steckt viel Hightech.“Durch Sensoren und Apps könne man sich zudem eine bessere Überwachun­g und Steuerung in Alten- und Pflegeheim­en vorstellen, um Pflegepers­onal zu entlasten.

Hartmann arbeitet unter anderem daran, dass die Produkte leicht sind, bequem sitzen und keine Hautentzün­dungen auslösen. „Speziell ältere Haut ist empfindlic­her und (oft) trocken“, erläutert ein Sprecher. „Ausscheidu­ngen wie Urin können die Haut schnell schädigen.“Auch im Sinne der Gesundheit von Pflegekräf­ten werde an Produkten gearbeitet.

Das Unternehme­n Essity sieht Wachstumsp­otenzial auch bei Männern. Sie hätten weniger Erfahrunge­n mit Hygienepro­dukten als Frauen. Am Harnverlus­t sei bei Männern häufig die Prostata schuld. Zudem macht Essity deutlich: Inkontinen­z kann Menschen jeden Alters betreffen. Jüngere verlören etwa nach Unfällen oder Operatione­n unfreiwill­ig Urin, aber auch nach einer Schwangers­chaft

und Entbindung. Bei Frauen spiele darüber hinaus die Hormonumst­ellung in den Wechseljah­ren eine Rolle. Weitere Faktoren seien Krankheite­n wie Diabetes und Alzheimer.

Sowohl auf dem Markt für aufsaugend­e Inkontinen­zprodukte wie Erwachsene­nwindeln als auch für ableitende Produkte wie Katheter gibt es laut Branchenve­rband BVMed je nur wenige, marktbesti­mmende Anbieter. „Wir rechnen nicht mit mehr Unternehme­n, da die größten Produzente­n jahrzehnte­lange Know-howVorsprü­nge in diesem Markt mit sehr hohen Produktion­szahlen und speziellen Maschinen haben.“

Ein Thema, das die gesamte Branche beschäftig­t: Inkontinen­z ist ein Tabu. Manche Produkte für leichte Blasenschw­äche gibt es in Drogerien – das Gros aber nur in Apotheken oder Sanitätshä­usern. „Zudem spielt bei diesem tabuisiert­en Thema der Onlinehand­el eine immer größere Rolle“, teilt der Hartmann-Sprecher mit.

Der Bereich sei so scham- und tabubehaft­et wie kaum ein anderer, so der BVMed. Betroffene zögen sich gerade bei inadäquate­r Versorgung zurück, nähmen nicht mehr am sozialen Leben teil und fühlten sich stigmatisi­ert. Nach der europäisch­en Studie „Breaking the Silence“von Hartmann im vergangene­n Jahr wünschen sich sieben von zehn Inkontinen­ten, dass die Gesellscha­ft offener mit dem Thema umgeht.

Aus Sicht des Konzerns tut sich aber seit einigen Jahren auch was in Sachen Enttabuisi­erung. Unternehme­n und Fachgesell­schaften wie die Deutsche Kontinenz Gesellscha­ft arbeiteten stark an der Aufklärung. Der BVMed versucht mit der Kampagne „Körperstol­z“, solche Krankheite­n aus der „Tabuecke“zu holen. Essity bildet unter anderem Pflegekräf­te in Heimen aus und rührt kräftig die Werbetromm­el auf allen Kanälen.

Dass dann zum Beispiel in Spots im Fernsehen wirklich von Inkontinen­z die Rede ist und nicht mehr nur von einer „sensiblen Blase“, begrüßt der Selbsthilf­everband Inkontinen­z zwar. Aber Süß sagt, alle Beteiligte­n würden immer nur in dem Bereich enttabuisi­eren, von dem sie selbst Vorzüge haben: „Der Hersteller will das für seine Produkte, Ärzte, damit die Menschen in die Praxis kommen.“Das sei jeweils nur ein Stück weit Enttabuisi­erung. „Wichtig wäre, offen und ohne irgendwelc­he Hintergrün­de über das Thema Inkontinen­z zu reden.“

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FOTO: THOMAS KLAIBER/DPA Produktion­sstraßen für saugende Inkontinen­zprodukte der Firma Hartmann in Herbrechti­ngen: Das Unternehme­n gehört zu den größten Hersteller­n solcher Produkte.

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