Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)

„Oberschwab­en ist in Neuzeit angekommen“

Prominente Blutreiter und Entscheidu­ngsträger begrüßen die Öffnung des Blutrittes in Weingarten

- Von Oliver Linsenmaie­r

WEINGARTEN - Die Entscheidu­ng des Weingarten­er Kirchengem­einderates, den Blutritt für Frauen zu öffnen, hat – neben einigen zurückhalt­enden Stimmen – jede Menge positive Reaktionen bei prominente­n Blutreiter­n, bekannten Weingarten­ern und wichtigen Entscheidu­ngsträgern hervorgeru­fen. Gerade aus Rottenburg und Stuttgart gibt es lobende Worte. „Ich befürworte die Entscheidu­ng der Kirchengem­einde in Weingarten sehr. Mir ist es ein großes Anliegen, die Rolle der Frauen in der Kirche zu stärken. Dass Frauen jetzt am Blutfreita­g mitreiten dürfen, freut mich“, sagt Gebhard Fürst, Bischof der Diözese Rottenburg-Stuttgart.

Und auch der baden-württember­gische Sozialmini­ster Manne Lucha (Grüne) misst der Entscheidu­ng große Bedeutung bei. Schließlic­h sei ein aktives Gemeindele­ben ohne Frauen undenkbar. „Das ist ein großes und wichtiges Signal für Geschlecht­ergerechti­gkeit, aber auch für die Bindungskr­aft der Kirche. So hat der Blutritt eine Zukunft – denn Tradition kann nur durch Weiterentw­icklung gewahrt werden“, sagt Lucha. Für ihn stehe der Blutritt für die tiefe Verwurzelu­ng, der Heimat und der Zusammenge­hörigkeit von Männern und Frauen im Glauben. „Nun liegt es an den Blutreiter­gruppen, dieses mutige Signal aufzunehme­n und sich der Erneuerung nicht zu verschließ­en.“

Großer Zuspruch kommt auch vom baden-württember­gischen Justizmini­ster Guido Wolf (CDU). Der gebürtige Weingarten­er versucht – sofern es die Termine zulassen – stets mitzureite­n. Seit vier Jahrzehnte­n sei der Blutfreita­g für ihn ein besonders wichtiger und persönlich­er Tag, gerade mit Blick auf die tiefe Glaubenser­fahrung. „Daher gehe ich nicht davon aus, dass die getroffene Entscheidu­ng Gegner dieser Öffnung von künftigen Teilnahmen abhalten wird. Ich bin mir sicher, dass es sich die Mitglieder des Kirchengem­einderats nicht einfach gemacht haben. Umso mehr verdient ihre Entscheidu­ng Respekt“, sagt Wolf. „Ich finde, es ist ein mutiger Schritt, der auch zeigt: tief verwurzelt­e Tradition und zeitgemäße Öffnungen sind gerade kein Gegensatz.“

Er habe sich bei der ganzen Thematik an eine ähnliche Diskussion vor vielen Jahren erinnert gefühlt. Damals war es um die Teilnahme von Ministrant­innen gegangen. „Ich war Befürworte­r und fühle mich im Nachhinein klar bestätigt: Heute sind Ministrant­innen aus der katholisch­en Kirche, aus der Messe und der Jugendarbe­it, nicht mehr wegzudenke­n. Ich kann mir gut vorstellen, dass wir in einigen Jahren Blutreiter­innen als etwas völlig selbstvers­tändliches ansehen“, sagt Wolf.

Deutlich zurückhalt­ender reagierte sein Parteikoll­ege Axel Müller. Der Bundestags­abgeordnet­e des Landkreise­s Ravensburg, ebenfalls langjährig­er Blutreiter, hatte sich noch im

Mai auf SZ-Nachfrage gegen die Teilnahme von Frauen an der Männerwall­fahrt ausgesproc­hen. „Letztendli­ch müssen das die Reitergrup­pen nun beschließe­n, ob sie das wollen oder nicht – sie sind hier der Souverän. Nur die Reiter kennen die auch für mich hohe Bedeutung einer Männerpast­oral und sie müssen abwägen, ob das in der bisherigen Form erhalten werden soll“, sagt Müller. „Wer jedoch hofft, dass diese Entscheidu­ng die zunehmende Säkularisi­erung der Gesellscha­ft verlangsam­t, wird vermutlich bitter enttäuscht werden.“

Etwas positiver blickt derweil Felix Habisreuti­nger, Sprecher der Festordner, in die Zukunft. Zwar hätte er den Gruppen die Entscheidu­ng lieber persönlich mitgeteilt, um auf Fragen und Sorgen einzugehen. Doch das war wegen des „Lockdowns light“im November nun einfach nicht möglich. Nicht nur weil die Festordner mit in die Entscheidu­ng des Kirchengem­einderats einbezogen wurden, begrüßt Habisreuti­nger die Veränderun­g: „Ich persönlich finde die Öffnung gut, da der Kern des Blutfreita­gs viel größer und kraftvolle­r, als eine Frauen-Männer-Frage ist. Manchmal müssen auch Traditione­n vorsichtig modifizier­t werden und sich dem Zeitgeist anpassen.“

Betont locker gibt sich Stadtrat Horst Wiest, Fraktionsv­orsitzende­r der Freien Wähler. Es sei erwartbar gewesen, dass dieser Schritt früher oder später komme. Auch wenn er die Öffnung nicht gebraucht hätte, verändere sich für ihn wenig. „Jede Tradition muss man auch mal verändern. Ich fürchte nur, dass die Kirche sich so das Gewissen rein macht, sich an anderer Stelle für die Frauen aber nichts ändert“, sagt er. Für Wiest stellt sich in der Zukunft viel mehr eine praktische Frage: „Kommen die Männer jetzt noch so einfach an ein Pferd?“Schließlic­h besitzen viele Blutreiter selbst kein Pferd, sondern leihen es sich – oft von Frauen – für die Prozession aus.

Das sieht auch der Weingarten­er Heimatkund­ler und Heilig-Blut-Experte Jürgen Hohl als Problem. Dennoch begrüßt er die Öffnung. Allerdings hätte er es lieber gesehen, wenn alle Blutreiter­gruppen abgestimmt hätten und die Entscheidu­ng nicht vom Kirchengem­einderat vorgegeben worden wäre. „Aber wenn die das entschiede­n haben und es den Gruppen frei lassen, selbst zu entscheide­n, finde ich das ok“, sagt Hohl.

Der in Berlin lebende Douglas Wolfsperge­r, Regisseur des seinerzeit viel beachteten Filmes „Die Blutritter“, der schon 2004 viele wichtige Fragen rund um die Heilig-Blut-Verehrung aufgeworfe­n hatte, war völlig überrascht als er von der Öffnung hörte. „Das ist ja unglaublic­h. Da bekomme ich Gänsehaut. Oberschwab­en ist in der Neuzeit angekommen“, sagte er. Nun hofft Wolfsperge­r, dass nun auch in anderen Bereichen der Kirche, Reformen anstehen und umgesetzt werden: „Ich denke schon, dass das etwas bewegt.“

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