Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)
„Es hat sich schockierend wenig getan“
Experten analysieren Wahlprogramme in leichter Sprache von aussichtsreichsten Kandidaten im Wahlkreis
LEUTKIRCH/REGION - Die Wahlprogramme der Parteien sollen den Wählern eine Orientierung bei der Wahl geben. Doch oft sind die Programme komplex geschrieben, sodass Menschen mit Beeinträchtigungen – beispielsweise mit einer geistigen Behinderung oder Lernschwäche – zum Teil Verständnisprobleme haben. Um auch diesen Wählern eine Orientierungshilfe zu geben, bieten fast alle größeren Parteien ein landesweites Wahlprogramm in leichter Sprache an. Die „Schwäbische Zeitung“hat mit Experten gesprochen, wie diese die Wahlprogramme bewerten.
Bernd Heggenberger ist der Leiter der Bildung und Arbeitsförderung der „Oberschwäbischen Werkstätten“und Leiter des Übersetzungsbüros „capito Bodensee“, das Texte in einfache Sprache übersetzt. „Die Schwierigkeiten für Menschen mit Beeinträchtigungen bei Wahlen sind relativ vielschichtig. Es ist häufig noch so, dass diesen Menschen nicht zugetraut wird, dass sie komplexe Zusammenhänge verstehen und mitsprechen können. Meine Erfahrung ist: Wenn man den Leuten Zeit gibt, auf sie eingeht und die entsprechende Sprache wählt, können sie vieles lernen und für sich selbst Entscheidungen treffen“, sagt Heggenberger.
Die Informationen für Menschen mit Unterstützungsbedarf im Wahlkreis Wangen-Illertal seien ein Beginn, dürften aber mehr sein. „In den nächsten Jahren müssen wir noch mehr ein Bewusstsein dafür schaffen, dass Menschen mit Behinderung auch da sind und einen speziellen Bedarf haben.
Die ersten Anfänge wurden gemacht. Seit der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen hat sich mehr Bewusstsein entwickelt. Aber es hat sich schockierend wenig getan zwölf Jahre später“, zieht er sein Fazit.
Da in diesem Jahr coronabedingt keine Veranstaltungen der Arbeitsgemeinschaft Wahlen des Landkreises Ravensburg (AG Wahlen RV) stattfinden können, bei denen sich Menschen mit Unterstützungsbedarf mit politischen Vertretern austauschen können, wurde ein Online-Portal eingerichtet. Auf diesem können sich Politiker in Videoform vorstellen und virtuell Fragen beantworten.
Er freue sich, dass viele Politiker aktiv auf dem Portal seien. „Es ist nicht so einfach, sich in leichter Sprache vorzustellen, das haben die Politiker gut gemacht“, erklärt Heggenberger. Das Team seines Übersetzungsbüros „capito Bodensee“hat sich die Wahlprogramme in leichter Sprache der aussichtsreichsten Parteien genauer angeschaut.
„Das Programm hat mit zwölf Seiten eine überschaubare Länge und ist auf den ersten Blick übersichtlich dargestellt und als leichte Sprache erkennbar. Auch die durchgehende Illustrierung mit Grafiken wird eingehalten“, analysiert das Team von „capito Bodensee“. Jedoch fehle ein Inhaltsverzeichnis für einen Themenüberblick. Zudem gebe es einige Schwachstellen
wie Sätze ohne Prädikat und fehlende Aufzählungen. „Inhaltlich grenzt sich das Programm nicht ab, allgemeine Inhalte und abstrakte Formulierungen lassen es universell wirken. Gut ist aber, dass durchgehend einfache Worte verwendet wurden“, so die Experten.
„Das Programm der Grünen ist unserer Meinung nach am besten gelungen. Es ist in einer sehr einfachen Sprache geschrieben, allerdings grammatikalisch so, dass es sich auch für andere Zielgruppen gut eignet. Es hat ein eigenes Layout mit Fotos und ist deshalb am ehesten als gleichberechtigte Broschüre anzusehen“, so die Expertenanalyse. Auch die Themen der Partei seien gut erkennbar, jedoch fehlten an einigen Stellen konkrete Beispiele für deren Umsetzung. Zudem würden schwierige Wörter oft nicht erklärt, sodass Forderungen teilweise nicht verständlich seien.
Der Text werde sofort als Information in leichter Sprache sichtbar, bei der Erstellung seien die Regeln zur einfachen Sprache beachtet worden. Das Programm sei jedoch mit knapp 40 Seiten zu lang.
Als Kritikpunkt äußern die Experten außerdem, dass es kein Inhaltsverzeichnis und damit keine Orientierungsmöglichkeit gebe. „Dieses Programm hilft in keiner Weise dabei, die politische Ausrichtung der SPD zu erkennen beziehungsweise sie von den
Ausrichtungen der anderen Parteien zu unterscheiden. Es ist von der Übersetzung und vom Layout her das schlechteste Programm von allen“, so das Fazit der Mitarbeiter von „capito Bodensee“.
Das Programm der Partei habe mit zehn Seiten eine akzeptable Länge. Allerdings fehle auch hier eine Themenübersicht oder ein Inhaltsverzeichnis. „Der erste Eindruck des Dokuments wirkt überladen durch die Texte, Wörterbucheinträge, Grafiken, das Parteienlogo und so weiter. Das Programm der Linken hat insgesamt die meisten konkreten Inhalte und ausführlichsten Angaben zur gesellschaftlichen und politischen Teilhabe von Menschen mit Beeinträchtigungen“, meinen Heggenberger und sein Team.
Das 14-seitige Wahlprogramm hat laut den Experten eine klare Struktur, auch wenn ein Inhaltsverzeichnis fehle. Stattdessen gebe es jedoch eine Seitennummerierung. „Die Themen werden genannt und die Wörter und Zusammenhänge erklärt. Auch die konkreten Forderungen und Umsetzungen werden beschrieben. Ob die Leichte-Sprache-Illustrationen nötig sind, sei mal dahingestellt“, so die Experten.
Die AfD bietet kein Wahlprogramm in leichter Sprache an. „Wenn eine Partei kein Wahlprogramm in leichter Sprache anbietet, wird die Wahl für Menschen mit Unterstützungsbedarf erschwert und nicht nur Menschen mit Behinderung werden ausgeschlossen, sondern auch Menschen mit funktionalem Analphabetismus haben große Probleme, das zu verstehen“, meint Heggenberger. Auf SZ-Nachfrage erklärt Carmen Haug für den AfD-Vorstand des Kreisverbandes: „Wir als junge Partei verfügen leider noch nicht über alle Unterlagen in leichter Sprache.“Generell merken die Experten an, dass die Programme in leichter Sprache überwiegend inhaltlich sehr ähnlich seien, wodurch es schwer sei, für die Leser zu erkennen, welche Partei welche Ziele verfolgt.
Ein weiteres Problem seien die Inhalte, die nicht der Zielgruppe angepasst wurden: „Die Parteien haben größtenteils ihr Wahlprogramm eins zu eins genommen und in leichte Sprache übersetzt. Aber diese Menschen interessieren andere Fragen als Photovoltaikanlagen. Sie wollen wissen: Ist der Bahnhof in meinem Ort barrierefrei?“, sagt Heggenberger.
Helmut Müller, der Gesamtleiter der Sankt Jakobus Eingliederungshilfe, ist begeistert, dass fünf der wichtigsten Parteien ein Programm in leichter Sprache haben: „Wir sind viel weiter als noch vor zehn Jahren. Es ist sehr schwierig, politische, komplexe Zusammenhänge in leichter Sprache zu erklären. Da haben sich die Parteien zum Teil respektabel auf die wichtigsten Dinge beschränkt“, sagt Müller.