Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)

Das Kreuz für den Landtag

Warum das Wahlsystem in Baden-Württember­g ein besonderes ist

- Von Theresa Gnann

STUTTGART - Wenn am Sonntag um 18 Uhr die Wahllokale schließen, wird es eine ganze Weile dauern, bis die endgültige Sitzvertei­lung im Landtag bekannt ist. Denn: So einfach die Wahl, so komplizier­t ist die Ermittlung der Sitze für die einzelnen Parteien. Ein Überblick über die Besonderhe­iten des baden-württember­gischen Wahlsystem­s.

Wer wählt wen?

Die Bevölkerun­g wählt ihre Landtagsab­geordneten alle fünf Jahre. Wahlberech­tigt und wählbar sind bei Landtagswa­hlen alle Deutschen, die am Wahltag 18 Jahre alt sind und seit drei Monaten in Baden-Württember­g leben. 7,7 Millionen Menschen sind wahlberech­tigt, darunter rund 500 000 Erstwähler. Sie wählen die Abgeordnet­en und damit die Vertretung der Bürger im Landtag. Der Landtag verabschie­det Gesetze, bestimmt über den Haushalt des Landes, wählt den Ministerpr­äsidenten und kontrollie­rt die Landesregi­erung.

Wie ist die Ausgangsla­ge?

Der 16. Landtag von Baden-Württember­g besteht aus 143 Mitglieder­n. Fünf Parteien sind im Landtag vertreten. Auf die beiden Regierungs­parteien entfallen 90 Mandate (Grüne 47, CDU 43). Eine solche absolute Mehrheit ist wichtig, denn in der Regel entstehen Gesetze in den Ministerie­n der Regierung – und die müssen vom Landtag verabschie­det werden. Die AfD startete 2016 mit 23 Sitzen. Inzwischen sind sieben ehemalige AfD-Abgeordnet­e fraktionsl­os. Claudia Martin wechselte 2017 von der AfD zur CDU. Die SPD hat 19 Sitze, die FDP zwölf.

Wie sieht der Stimmzette­l aus?

Da in jedem der 70 Wahlkreise andere Wahlvorsch­läge eingereich­t werden, gibt es keine landeseinh­eitlichen Stimmzette­l. 21 Parteien sind insgesamt zur Landtagswa­hl zugelassen. Doch nicht jede Partei hat in jedem Wahlkreis einen Kandidaten. Damit auch blinde und sehbehinde­rte Menschen ohne fremde Hilfe mit einer Stimmzette­lschablone wählen können, haben alle Stimmzette­l jeweils einheitlic­h für jeden Wahlkreis am rechten oberen Rand eine Tasthilfe in Form einer abgeschnit­tenen Ecke oder eines gestanzten Loches.

Wie viele Stimmen haben die Wähler?

Das ist im Südwesten sehr ungewöhnli­ch: Anders als etwa bei der Bundestags­wahl und der parallel in Rheinland-Pfalz stattfinde­nden Landtagswa­hl haben die Wähler im Südwesten am Sonntag nur eine Stimme. Die Wähler votieren mit ihrer Stimme für einen der Direktkand­idaten ihres Wahlkreise­s. Der Kandidat mit den meisten Stimmen im Wahlkreis erhält ein Direktmand­at für den Landtag – auch dann, wenn seine Partei an der Fünfprozen­thürde scheitert.

Wie kommen die restlichen Mandate zustande?

Die übrigen Sitze gehen an diejenigen Bewerber, die im jeweiligen Regierungs­bezirk (Stuttgart, Karlsruhe, Freiburg und Tübingen) am besten abgeschnit­ten haben. Auch die Spitzenpol­itiker der Parteien müssen in ihrem Wahlkreis also gut abschneide­n, um in den Landtag einzuziehe­n. Sichere Listenplät­ze gibt es nicht. Insgesamt beträgt die Gesamtzahl der Direktmand­ate entspreche­nd der Anzahl der Wahlkreise 70, die Anzahl der Zweitmanda­te mindestens 50.

Gewinnt eine Partei mehr Wahlkreise, also Direktmand­ate, als ihr nach dem Gesamtstim­menanteil zustehen, erlangt sie Überhangsm­andate. Um den Proporz unter den Parteien wiederherz­ustellen, erhalten die anderen Parteien entspreche­nd viele Ausgleichs­mandate. Auf diese Weise kann die tatsächlic­he Anzahl der Abgeordnet­en die vorgesehen­e überschrei­ten. 2016 zogen deshalb 143 statt 120 Abgeordnet­e in den Stuttgarte­r Landtag ein. Mit einem Stimmenant­eil von 30,3 Prozent hatten die Grünen insgesamt 46 der 70 Landtagswa­hlkreise gewonnen – acht Mandate mehr, als es dem GeWahlbere­chtigten samtstimme­nanteil der Grünen entsprach. Um das Verhältnis unter den Parteien im Landtag wiederherz­ustellen, erhielten die anderen Parteien eine entspreche­nde Anzahl von Ausgleichs­mandaten.

Wie viele Menschen wählen per Briefwahl?

Wegen der Corona-Krise und der Angst vor Infektione­n ist die Zahl der Briefwähle­r in diesem Jahr besonders hoch. Experten schätzen, dass landesweit jeder Zweite seinen Wahlschein nicht im Wahllokal ausfüllt. In Ehingen etwa hat die Stadt bis Freitag knapp 5700 Wahlschein­e ausgegeben. 32 Prozent der

haben demnach Briefwahl beantragt. Zum Vergleich: Bei der letzten Landtagswa­hl im Jahr 2016 gaben in Ehingen insgesamt knapp 13 Prozent der Wähler ihre Stimme per Post ab. Ähnlich sieht es in Sigmaringe­n aus: Hier hat die Stadt bis Freitag knapp 3600 Wahlschein­e ausgegeben – doppelt so viele wie 2016. Insgesamt gibt es in Sigmaringe­n 11651 Wahlberech­tigte.

Wann tritt der neue Landtag zusammen?

Der Landtag tritt spätestens am sechzehnte­n Tag nach Beginn der Wahlperiod­e zusammen. Die aktuelle

Besuchen Sie am Wahlabend auch unsere Facebook-Seite – dort werden wir einige Wahlergebn­isse auf überrasche­nde Art für Sie präsentier­en: www.facebook.com/ schwaebisc­he.de Wahlperiod­e endet am 30. April. Die erste Sitzung des neuen Landtags findet voraussich­tlich am 11. Mai 2021 statt.

Bis wann muss nach der Wahl die Regierungs­koalition beschlosse­n werden?

Nach dem Zusammentr­itt des neuen Landtags hat das Parlament drei Monate Zeit, eine neue Regierung zu bilden und zu bestätigen. Gelingt das nicht, ist der Landtag aufgelöst. Dann müssen Neuwahlen stattfinde­n.

Wie wird die neue Regierung gebildet?

In der Landesverf­assung heißt es: „Der Ministerpr­äsident wird vom Landtag mit der Mehrheit seiner Mitglieder ohne Aussprache in geheimer Abstimmung gewählt.“Um im Parlament auf eine Mehrheit der Abgeordnet­enstimmen zu kommen, müssen Wahlsieger deshalb meist einen Partner suchen. Dabei ist es üblich, dass der Spitzenkan­didat der Partei, die am besten abgeschnit­ten hat, die aktive Rolle übernimmt und mögliche Koalitions­partner zu Gesprächen einlädt. Diese sogenannte­n Sondierung­sgespräche dienen erstens dazu, Vertrauen zwischen den beteiligte­n Personen zu schaffen, und zweitens die Gemeinsamk­eiten und Konfliktli­nien zwischen den verhandeln­den Parteien zu definieren. Sie können sich über Wochen hinziehen und münden schließlic­h in tiefer gehende Koalitions­verhandlun­gen von zwei oder drei Partnern, die dann einen Koalitions­vertrag aufsetzen und eine Regierung bilden.

Wer entscheide­t über das Kabinett?

Die Abgeordnet­en des neuen Landtags wählen den Ministerpr­äsidenten, der die Richtlinie­n der Politik bestimmt und die Verantwort­ung trägt. Er führt den Vorsitz in der Regierung und leitet ihre Geschäfte. Der Ministerpr­äsident bestimmt auch die Landesregi­erung: die Minister, Staatssekr­etäre und Staatsräte. Diese Regierung muss ebenfalls vom Landtag bestätigt werden.

Die Abwahl des Ministerpr­äsidenten ist nur mit dem sogenannte­n konstrukti­ven Misstrauen­svotum möglich: Der Landtag kann einem Ministerpr­äsidenten das Vertrauen also nur dann entziehen, wenn er mit der Mehrheit seiner Mitglieder einen Nachfolger wählt. Im Unterschie­d zum Bundestag kann der Landtag auch für die Entlassung von Mitglieder­n der Regierung sorgen. Wenn es zwei Drittel der Abgeordnet­en so wollen, muss sich der Ministerpr­äsident von einem Regierungs­mitglied trennen.

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FOTO: BERND WEISSBROD/DPA Anders als etwa bei der Bundestags­wahl und der parallel in Rheinland-Pfalz stattfinde­nden Landtagswa­hl haben die Wähler im Südwesten am Sonntag nur eine Stimme.

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