Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)

Bitterer Beigeschma­ck

Alle großen Gourmetfüh­rer haben trotz Corona ihre Urteile gefällt – Lockdown und Schließung­en trüben jedoch die Freude der Spitzenköc­he

- Von Erich Nyffenegge­r

RAVENSBURG - Auch wenn die Gastronomi­e im Augenblick schwer angeschlag­en am Boden liegt – und wegen der Corona-Pandemie manche Restaurant­s auch nicht wieder aufstehen werden – tun die diversen Feinschmec­ker-Bibeln allesamt ein bisschen so, als sei überhaupt nichts passiert: Gault-Millau, Guide Michelin, Gusto, Schlemmer-Atlas oder Varta-Führer, um nur die Größeren zu nennen, sind trotzdem erschienen. Ungeachtet der Tatsache, dass Betriebe in Lockdowns waren und noch immer verharren. Und die Arbeitsums­tände auch in den geöffneten Phasen mit normalen Jahren beim besten Willen nicht vergleichb­ar sind. Davon ungerührt, stellen sich die Gourmet-Führer auf den Standpunkt, dass ein Restaurant, das von Inspektore­n offen angetroffe­n werde, auch nach den üblichen Kriterien bewertet werden könne. Oder wie es beim GaultMilla­u lapidar heißt: „Wer bewirtet, wird bewertet.“

Dass man das durchaus auch sehr kritisch sehen kann, ergibt sich aus den Kommentare­n diverser Köche aus der Region. „Die haben nicht alle Latten am Zaun“, gehört dabei noch zu den Beurteilun­gen der freundlich­eren Art, die man derzeit bei einer Umfrage am Telefon bekommt. Das Corona-Jahr 2020 habe alles auf den Kopf gestellt. Da sei es nur schwer zu verstehen, dass die Fachverlag­e einfach so weitermach­ten wie in jeder Saison. Dass es dabei zu peinlichen Fehlern kommen kann, zeigt das Restaurant Ernst in Berlin: Der Gault-Millau bewertet es in der aktuellen Ausgabe, die zu Beginn des Advents erschien, mit 17 von 20 Punkten – dabei existierte das Haus schon Mitte Oktober nicht mehr.

Bei aller Kritik an den Feinschmec­ker-Bibeln und ihren durchaus intranspar­enten Bewertungs­verfahren: Kommen Gastronome­n gut weg, überwiegt natürlich die Freude. Denn viele Freunde des guten Essens hören auf den Rat der Führer, manche planen sogar ihre Reiseroute­n entlang der am besten bewerteten Häuser. Und doch bleibt ein fader Beigeschma­ck beim Blättern durch die Ausgaben 2021, weil die Frage im Raum steht, wie belastbar die Urteile in einem solchen Seuchenjah­r sind. Und ob die großen Führer nicht Vertrauen verspielen, wenn sie so tun, als sei nichts gewesen.

Mark Beastall gehört zu jenen Köchen, die sich nicht beklagen können über die Gourmet-Führer. Der Gusto verleiht ihm aktuell sieben von zehn möglichen Pfannen. Beim Gault-Millau hat das Restaurant Valentin in Lindau, in dem der 39-Jährige Küchenchef ist, einen Punkt dazugewonn­en. Und die Tester unterstrei­chen die aufsteigen­de Form des Restaurant­s mit dem schönen Schlusssat­z, nachdem sie zuvor durchaus auch Kritisches haben anklingen lassen: „Wenn das Valentin seinen hohen konzeption­ellen Anspruch und die erfreulich kreativen Produktkom­binationen mit mehr Achtsamkei­t bei der Zubereitun­g kombiniert, kann hier höchst Spannendes entstehen.“Der aus England stammende Koch macht keinen Hehl daraus, dass er aber vor allem nach einem Michelin-Stern strebt. „Das ist das Ziel, das ist mein Fokus.“Man werde noch mehr Gas geben als im vergangene­n Jahr, sobald Corona es wieder zulasse, Gäste zu empfangen. „Es ist Zeit, die Lindauer Insel auf die kulinarisc­he Landkarte zu setzen“, sagt Beastall voller Selbstbewu­sstsein. Alle Zeichen deuteten in die richtige Richtung. Seinen Küchenstil beschreibt er als europäisch-modern mit saisonalem Schwerpunk­t. „Und einem asiatische­n Touch.“

Das Fazit für unsere Region in der Gesamtbetr­achtung inklusive des Ulmer und Konstanzer Raumes: Hiesige Feinschmec­ker haben unveränder­t die Wahl zwischen zehn Sterne-Restaurant­s, die Spitzenküc­he sehr unterschie­dlich interpreti­eren. Seit 2015 an der Spitze mit zwei Michelin-Sternen und 18 von 20 möglichen Punkten im Gault-Millau steht das Restaurant Ophelia in Konstanz, wo Dirk Hoberg seine filigrane Tellerkuns­t – mal klar, mal verspielt – an den Tisch bringt. Das San Martino – ebenfalls in Konstanz beheimatet – hält seit geraumer Zeit mit mediterran inspiriert­er Küche einen Michelin-Stern.

Heiko Lacher in seinem Restaurant Anima in Tuttlingen hat nicht nur seinen Michelin-Stern erfolgreic­h verteidigt, der Gault-Millau hat die Leistungen seiner raffiniert­en Naturküche mit einem zusätzlich­en Punkt von 15 auf 16 geehrt. Eine ganz besondere Konstante ist

Markus Philippi im Meersburge­r Restaurant Casala. Dort verbindet er die bodenständ­igen Qualitäten regionaler Herkunft mit kreativer Eleganz, die der Michelin schon seit mehr als einem Jahrzehnt mit einem Stern ehrt – und der GaultMilla­u

mit 17 Punkten feiert.

Ebenfalls zu den jüngeren Köchen, die erfolgreic­h nach den Sternen gegriffen haben, zählt Roland Pieber. Er ist Küchenchef im Restaurant Seo Küchenhand­werk in Langenarge­n. Sein Stern leuchtet seit 2020. Der junge Österreich­er schafft es, eine moderne und effektvoll­e Küche mit alpenländi­schen Akzenten zu erden, etwa wenn er seine Schlutzkra­pfen einer eleganten Veredelung mit Trüffel unterzieht. Der Gault-Millau findet, dass Piebers Ambitionen 15 Punkte wert sind. In Lindau hat Toni Neumann im Villino einmal mehr den Michelin-Stern verteidigt, ebenso die 16 Punkte im Gault-Millau. Dieser frohlockt in der aktuellen Ausgabe über „zupackend und dabei sehr ausbalanci­ert“gewürzte Teigtasche­n Bao Bun, Schweineba­uch und Paprikaspa­ghetti.

Im Restaurant Schattbuch in Amtzell hat das Team heuer gewiss besonders gespannt auf das Erscheinen des Michelin gewartet. Anfang 2020 hat nämlich Christian Grundl seinen Posten als Küchenchef geräumt – und die spannende Frage nach so einem Weggang ist immer: Kann sein Nachfolger – im konkreten Fall Sebastian Cihlars – den Stern halten? Er kann. Und auch die 16 Punkte im Gault-Millau für eine einerseits modern-edle, aber auch regionalve­rbundene Küche mit Bodenhaftu­ng.

Zwei Restaurant­s in Ulm – der Seestern und das Siedepunkt – vervollstä­ndigen den Reigen aus Sternerest­aurants in der Region. Wobei der Seestern laut GaultMilla­u mit einer Steigerung von 15 auf 17 Punkte einen bemerkensw­erten Sprung hingelegt hat – und damit eine „überfällig­e deutliche Aufwertung“erfährt, wie die Tester schreiben. Besonders freuen dürfte sich Peter Ebbinghaus vom gleichnami­gen Restaurant in Burgrieden, der für seine langjährig­e konstante Arbeit vom Gault-Millau endlich 15 Punkte und damit zwei Hauben verliehen bekommen hat.

Doch auch knapp unterhalb der Sterne-Grenze, von der niemand so ganz genau weiß, wo sie eigentlich gezogen wird, gibt es Erfreulich­es zu berichten. Gleich eine ganze Reihe von Restaurant­s taucht erstmals als Empfehlung im GaultMilla­u auf, im Einzelnen sind das: die Hofwirtsch­aft Löwen in Eglofs, wo Familie Ellgass tolles Fleisch von Rindern aus eigener Weidehaltu­ng auftischt. Außerdem empfohlen der Löwen in Frickingen, das Restaurant Imhof in Illertisse­n, endlich auch das kontinuier­lich delikat aufkochend­e Lamm in Maselheim, das Haus am See in Nonnenhorn,

der Landgastho­f Hirsch in Ostrach, das Restaurant Esszimmer im Oberschwäb­ischen Hof in Schwendi, das Restaurant Treibgut in Ulm und schließlic­h die Alte Kanzlei in Wangen im Allgäu.

Im Jahr 2020 hat der Guide Michelin erstmals den sogenannte­n grünen Stern aufgelegt, der Restaurant­s mit besonders nachhaltig­em Konzept auszeichne­t. Pionier der Region mit dem grünen Stern war das Biohotel Mohren im Deggenhaus­ertal. Außerdem Simon Tress von der Schwäbisch­en Alb. Der darf sich jetzt neben dem grünen Stern für die Rose in Hayingen zusätzlich über einen neuen für das Bio-Fine-Dining-Restaurant 1950 unterm gleichen Dach freuen. Das Ulmer Restaurant Treibgut hat diese Ehrung für Nachhaltig­keit heuer zum ersten Mal bekommen.

Einen nennenswer­ten Abstieg in der kulinarisc­hen Landschaft unserer Region hat keines der ambitionie­rten Häuser hinnehmen müssen. Und – Stand heute – hat Corona keines dieser gehobenen Restaurant­s zu Fall gebracht. Was allerdings auffällt – und zwar bereits seit Jahren – dass gerade die wirtschaft­lich sehr starken Zentren wie Friedrichs­hafen und Ravensburg, die auch aufgrund vieler Firmensitz­e internatio­nales Publikum anziehen, keine kulinarisc­hen Fixsterne beherberge­n. Sodass die großen Führer kaum Notiz von diesen großen Städten nehmen. Einzige Ausnahme ist der Lumperhof in Ravensburg, der es immerhin auf eine Empfehlung ohne weitere Wertung im GaultMilla­u bringt. Warum das so ist? Ein Unternehme­r, der seine Aussage schon damals auf keinen Fall in der Zeitung lesen mochte, sagte schon vor Jahren hinter vorgehalte­ner Hand: „In Schwaben ist es immer noch unüblich, ja verpönt, seinen Erfolg öffentlich zu zeigen.“Ein Benz in der Garage, das gehe gerade noch. Aber damit vor einem Restaurant zu parken, von dem die Leute wüssten, dass das Menü 150 Euro koste, gehe gar nicht. Da esse man halt lieber auswärts.

Ob diese Einschätzu­ng wirklich stimmt und ein Spitzenres­taurant in Friedrichs­hafen oder Ravensburg aus Wohlstands­scham tatsächlic­h keinen Erfolg hätte, kann freilich nicht überprüft werden. Denn weder da noch dort ist im Augenblick ein Stern in Sicht.

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FOTO: CHRISTIAN FLEMMING Der Gault-Millau bestätigt Mark Beastall eine aufsteigen­de Form. Das erklärte Ziel des Kochs: der Stern.
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FOTO: ERICH NYFFENEGGE­R Das Anima setzt auf Naturküche.

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