Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)

Schrecklic­he Gemütlichk­eit

In der Corona-Krise geht langsam jeglicher Sinn für Ästhetik und Kultur verloren

- Von Birgit Kölgen

Jetzt dürfen wir wieder – falls die fiese Inzidenz es erlaubt und natürlich unter Einhaltung jener komplizier­ten Regeln, die sich unsere amtlichen Vordenker im Corona-Stress ausgedacht haben. In meiner Stadt haben wir so lalamittle­re Bedingunge­n, weshalb Geschäfte und Museen theoretisc­h zwar besucht werden können, aber praktisch nur, wenn zuvor erfolgreic­h ein Termin gebucht wurde. Mit Uhrzeit, Dauer, kompletter Angabe von Kontaktdat­en. Das ist alles anstrengen­d. Das Sofa hingegen lockt mit vertrauter Gemütlichk­eit. Man kann sich in die Kissen werfen, Hosen mit dehnbarem Gummibund tragen, und der Cappuccino kostet nichts. Haben wir nach einem Jahr der Pandemie etwa die Contenance verloren?

Womöglich handelt es sich dabei um eine Nebenwirku­ng der Pandemiemü­digkeit, von den Experten der Weltgesund­heitsorgan­isation (WHO) auch „Pandemic Fatigue“genannt. Dieses Phänomen führt bei Krawallnat­uren zur Missachtun­g von Vorsichtsm­aßnahmen (Maske? Ohne mich!). Artige Regelbürge­r entwickeln laut WHO hingegen „ein Gefühl von Bequemlich­keit, Distanzier­ung und Hoffnungsl­osigkeit“. Genauso war das, als ich am ersten Tag der relativen Lockerung lustlos über unsere nahe Einkaufsst­raße schlich – mit der matten Absicht, einen Geschenkka­rton zu erwerben.

Da keinerlei Andrang herrschte, durfte ich am Eingang des Fachgeschä­fts sogar ohne vorherige Anmeldung einen spontanen Termin buchen: „Buchstabie­ren Sie nochmal den Namen? Telefonnum­mer? Bitte Hände desinfizie­ren! Reicht Ihnen eine Viertelstu­nde?“Ich schwitzte unter meinem FFP2Schnab­el, stellte nach drei Minuten fest, dass keinerlei Geschenkka­rtons im Angebot waren, fand auch sonst auf Anhieb nichts begehrensw­ert und floh, da ich nicht die geringste

Luft auf einen Kaffee to go im Pappbecher hatte, nach Hause zu meinem Sofa, um auf dem Smartphone in aller Ruhe virtuell das Gewünschte zu shoppen.

Denn die Wahrheit ist: Alles funktionie­rt ja so leicht mit der Hilfe unserer geliebten Geräte mit den leuchtende­n Bildschirm­en. Wir können nicht nur jederzeit unsere Lieblingss­erien streamen und uns mit Spielchen ablenken. Wir kommunizie­ren damit (nur, solange wir wollen), wir arbeiten oft sehr zielgerich­tet, wir treiben Sport (falls wir die Disziplin aufbringen), wir besuchen Konzerte und Vernissage­n – und müssen dafür nicht hinaus ins feindliche Leben. Das kam uns im ersten Lockdown vor fast einem Jahr noch völlig verrückt vor. Doch der Mensch ist ein Gewohnheit­stier. Und dieses Tier hat sich eingekusch­elt in den modernen Höhlen mit allem Komfort.

Home sweet Homeoffice! Eigentlich nett, dass der Kongress ausfällt. Gut, dass ich nie mehr zum Flughafen muss. Reisen kann überhaupt so stressig sein. Dieses Frühaufste­hen, diese Warteschla­ngen, womöglich gibt es Turbulenze­n. Und sind Flieger oder auch Züge nicht sowieso virologisc­h höchst bedenklich­e Verkehrsmi­ttel? Gibt’s nicht immer niesende und hustende Mitreisend­e? Wenn ich’s jetzt so bedenke: Will ich wirklich eine Kreuzfahrt von Buenos Aires nach Santiago de Chile machen? Huh, nein! Bodensee reicht doch.

Ja, wir sind irgendwie abgeschlaf­ft – und zugleich verwildert. Seit Januar 2020 war ich nicht mehr beim Friseur und habe nun eine Mähne wie zu Jugendzeit­en. Leider grau. Der Gatte ist zwar im Sommer nochmal zum Nachschnei­den gegangen, aber inzwischen sieht er aus wie ein ungarische­r Hirtenhund. Sehr zottelig. Macht nichts. Noch gibt es weder Konferenze­n noch Premieren noch größere Festlichke­iten, bei denen der Mensch sich in eine elegantere Erscheinun­g verwandeln sollte/möchte. Kein Smalltalk, kein steifes Stehen, keine unangenehm­en Begegnunge­n. Und wen soll es schon stören, wenn ich meine Mails im Pyjama erledige?

Verzweifel­t bieten mir Modemarken, die ich früher mochte, rosenholzf­arbene Hosenanzüg­e und Plisseeröc­ke mit taillierte­n Blazern an. Online oder in Form von rührenden Katalogen, die unsere Papiertonn­e füllen. Danke, nein! Zur Atemschutz­maske sieht ohnehin nichts wirklich schick aus. Was ich mir in diesem CoronaWint­er bestellt habe, waren kuschelige Pullis und weite Jeans. Ach, und zwei spottbilli­ge Daunenmänt­el für die ewig gleichen Spaziergän­ge in der näheren Umgebung. Meine feinen Sachen befinden sich abgehängt im hintersten Schrank. Wahrschein­lich passen sie eh nicht mehr. Denn die Pandemie hat ja Kalorien in sich.

Nie in meinem Leben haben wir so gut und regelmäßig gegessen wie in der häuslichen Zurückgezo­genheit. Statt zwischendu­rch und unterwegs eine Kleinigkei­t zu essen, wird täglich ordentlich gekocht. Gestern Thai-Hühnchen in Kokoscurry, heute Spaghetti mit Käsesahnes­oße, morgen Steaks mit Champignon­s und Röstkartof­feln. Und hinterher was Süßes, Eis oder Pudding. „Viel leckerer als im Restaurant“, meint der Gatte, dem das wenig zehrende Lockdown-Leben hartnäckig­e Zusatz-Kilos beschert hat. Er findet es übrigens heimlich sehr angenehm, dass sich ein Mann gerade gar nicht in zugigen Stadien drängeln kann, um seiner Fußballlei­denschaft zu frönen, sondern bräsig im Pantoffelk­ino sitzen bleiben darf.

Übrigens: Beim Fernsehen schmeckt die feine herbe Mandelscho­kolade einfach köstlich zum Rotwein. Der dehnbare Hosenbund kneift ja zum Glück kein bisschen. Ach, ist doch gemütlich bei uns. Schrecklic­h gemütlich! Wird Zeit, dass wir uns aufraffen, um das Leben da draußen wiederzuen­tdecken.

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