Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)
Schreckliche Gemütlichkeit
In der Corona-Krise geht langsam jeglicher Sinn für Ästhetik und Kultur verloren
Jetzt dürfen wir wieder – falls die fiese Inzidenz es erlaubt und natürlich unter Einhaltung jener komplizierten Regeln, die sich unsere amtlichen Vordenker im Corona-Stress ausgedacht haben. In meiner Stadt haben wir so lalamittlere Bedingungen, weshalb Geschäfte und Museen theoretisch zwar besucht werden können, aber praktisch nur, wenn zuvor erfolgreich ein Termin gebucht wurde. Mit Uhrzeit, Dauer, kompletter Angabe von Kontaktdaten. Das ist alles anstrengend. Das Sofa hingegen lockt mit vertrauter Gemütlichkeit. Man kann sich in die Kissen werfen, Hosen mit dehnbarem Gummibund tragen, und der Cappuccino kostet nichts. Haben wir nach einem Jahr der Pandemie etwa die Contenance verloren?
Womöglich handelt es sich dabei um eine Nebenwirkung der Pandemiemüdigkeit, von den Experten der Weltgesundheitsorganisation (WHO) auch „Pandemic Fatigue“genannt. Dieses Phänomen führt bei Krawallnaturen zur Missachtung von Vorsichtsmaßnahmen (Maske? Ohne mich!). Artige Regelbürger entwickeln laut WHO hingegen „ein Gefühl von Bequemlichkeit, Distanzierung und Hoffnungslosigkeit“. Genauso war das, als ich am ersten Tag der relativen Lockerung lustlos über unsere nahe Einkaufsstraße schlich – mit der matten Absicht, einen Geschenkkarton zu erwerben.
Da keinerlei Andrang herrschte, durfte ich am Eingang des Fachgeschäfts sogar ohne vorherige Anmeldung einen spontanen Termin buchen: „Buchstabieren Sie nochmal den Namen? Telefonnummer? Bitte Hände desinfizieren! Reicht Ihnen eine Viertelstunde?“Ich schwitzte unter meinem FFP2Schnabel, stellte nach drei Minuten fest, dass keinerlei Geschenkkartons im Angebot waren, fand auch sonst auf Anhieb nichts begehrenswert und floh, da ich nicht die geringste
Luft auf einen Kaffee to go im Pappbecher hatte, nach Hause zu meinem Sofa, um auf dem Smartphone in aller Ruhe virtuell das Gewünschte zu shoppen.
Denn die Wahrheit ist: Alles funktioniert ja so leicht mit der Hilfe unserer geliebten Geräte mit den leuchtenden Bildschirmen. Wir können nicht nur jederzeit unsere Lieblingsserien streamen und uns mit Spielchen ablenken. Wir kommunizieren damit (nur, solange wir wollen), wir arbeiten oft sehr zielgerichtet, wir treiben Sport (falls wir die Disziplin aufbringen), wir besuchen Konzerte und Vernissagen – und müssen dafür nicht hinaus ins feindliche Leben. Das kam uns im ersten Lockdown vor fast einem Jahr noch völlig verrückt vor. Doch der Mensch ist ein Gewohnheitstier. Und dieses Tier hat sich eingekuschelt in den modernen Höhlen mit allem Komfort.
Home sweet Homeoffice! Eigentlich nett, dass der Kongress ausfällt. Gut, dass ich nie mehr zum Flughafen muss. Reisen kann überhaupt so stressig sein. Dieses Frühaufstehen, diese Warteschlangen, womöglich gibt es Turbulenzen. Und sind Flieger oder auch Züge nicht sowieso virologisch höchst bedenkliche Verkehrsmittel? Gibt’s nicht immer niesende und hustende Mitreisende? Wenn ich’s jetzt so bedenke: Will ich wirklich eine Kreuzfahrt von Buenos Aires nach Santiago de Chile machen? Huh, nein! Bodensee reicht doch.
Ja, wir sind irgendwie abgeschlafft – und zugleich verwildert. Seit Januar 2020 war ich nicht mehr beim Friseur und habe nun eine Mähne wie zu Jugendzeiten. Leider grau. Der Gatte ist zwar im Sommer nochmal zum Nachschneiden gegangen, aber inzwischen sieht er aus wie ein ungarischer Hirtenhund. Sehr zottelig. Macht nichts. Noch gibt es weder Konferenzen noch Premieren noch größere Festlichkeiten, bei denen der Mensch sich in eine elegantere Erscheinung verwandeln sollte/möchte. Kein Smalltalk, kein steifes Stehen, keine unangenehmen Begegnungen. Und wen soll es schon stören, wenn ich meine Mails im Pyjama erledige?
Verzweifelt bieten mir Modemarken, die ich früher mochte, rosenholzfarbene Hosenanzüge und Plisseeröcke mit taillierten Blazern an. Online oder in Form von rührenden Katalogen, die unsere Papiertonne füllen. Danke, nein! Zur Atemschutzmaske sieht ohnehin nichts wirklich schick aus. Was ich mir in diesem CoronaWinter bestellt habe, waren kuschelige Pullis und weite Jeans. Ach, und zwei spottbillige Daunenmäntel für die ewig gleichen Spaziergänge in der näheren Umgebung. Meine feinen Sachen befinden sich abgehängt im hintersten Schrank. Wahrscheinlich passen sie eh nicht mehr. Denn die Pandemie hat ja Kalorien in sich.
Nie in meinem Leben haben wir so gut und regelmäßig gegessen wie in der häuslichen Zurückgezogenheit. Statt zwischendurch und unterwegs eine Kleinigkeit zu essen, wird täglich ordentlich gekocht. Gestern Thai-Hühnchen in Kokoscurry, heute Spaghetti mit Käsesahnesoße, morgen Steaks mit Champignons und Röstkartoffeln. Und hinterher was Süßes, Eis oder Pudding. „Viel leckerer als im Restaurant“, meint der Gatte, dem das wenig zehrende Lockdown-Leben hartnäckige Zusatz-Kilos beschert hat. Er findet es übrigens heimlich sehr angenehm, dass sich ein Mann gerade gar nicht in zugigen Stadien drängeln kann, um seiner Fußballleidenschaft zu frönen, sondern bräsig im Pantoffelkino sitzen bleiben darf.
Übrigens: Beim Fernsehen schmeckt die feine herbe Mandelschokolade einfach köstlich zum Rotwein. Der dehnbare Hosenbund kneift ja zum Glück kein bisschen. Ach, ist doch gemütlich bei uns. Schrecklich gemütlich! Wird Zeit, dass wir uns aufraffen, um das Leben da draußen wiederzuentdecken.