Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)
„Fasten ist das Einzige, was uns noch retten kann“
Lindauer Dekan Ralf Gührer erzählt, warum Fasten zeitgemäßer ist denn je
KREIS LINDAU - Fasten spielt in vielen Religionen einen wichtige Rolle. Die Tradition des Fastens in der westlichen Welt geht auf die christliche Kirche zurück. Die Fastenzeit von Aschermittwoch bis Ostersamstag ist die bekannteste, aber eigentlich ist Fasten weitreichender. Gläubige Menschen fasten, weil sie aus einer Haltung, einer Ethik heraus verzichten, sagt Dekan Ralf Gührer. Mit ihm hat Ronja Straub über die Herkunft des Fastens und dessen Bedeutung gesprochen.
Fasten Sie und wenn ja, wie?
Ja, aber an die Situation und die Umstände angepasst. Nur in einem Punkt faste ich schon sehr lange: Ich habe keinen Fernseher. Aber der fehlt mir gar nicht mehr – keine Ahnung ob das dann noch als fasten gilt, wenn es nicht mehr weh tut.
Warum fasten Gläubige in der Fastenzeit?
Man verzichtet auf etwas aus einer Haltung, einer Ethik heraus. Man übt das Warten und trainiert somit die Achtsamkeit. Es gibt ja zwei Fastenzeiten im christlichen Glauben und noch viel mehr einzelne Tage, an denen gefastet werden soll. Wie die 40 Tage vor Ostern so ist auch der Advent eine Fastenzeit.
Was hat sich an dem Ritual über die Jahre verändert?
Ganz am Anfang der Religionsgeschichte steht sicher das Fasten aus Mangel an Nahrung. Es ist ja kein Wunder, dass die beiden Fastenzeiten im Christentum im Winterhalbjahr sind. Wir in Mitteleuropa müssen deswegen wohl nicht mehr fasten. Heute fasten viele, weil sie Tag ein Tag aus zu viel zu essen haben. Fasten ist etwas, was alle Religionen kennen. Wenn ich den Buddhismus richtig verstehe, ist seine Grundtendenz eigentlich permanentes Fasten.
Was glauben Sie, wie viele Menschen heute noch fasten, beziehungsweise auf Dinge verzichten in der Fastenzeit?
Mehr als man denkt. Die einen fasten, weil sie es so gewohnt sind, die anderen nehmen die Fastenzeit zum Anlass, etwas für sich zu tun – geistlich und körperlich. Vielleicht ist die Mehrheit der Verzichtenden heute nicht mehr die Gruppe der Gläubigen, aber es ist doch auch schön, wenn die Religion etwas Sinnvolles auch an Fernstehende weiter geben kann.
Welche Gruppe Menschen fastet?
In meinem Umfeld gibt es viele verschiedene Gruppen beziehungsweise Motive dafür: Zum Beispiel die Gesundheitsbewussten. Menschen, die regelmäßig fasten, altern langsamer und haben nachweislich bessere Abwehrkräfte, sagen die Mediziner. Diese Gruppe fastet zum Beispiel, indem sie deutlich weniger isst oder etwa auf Fleisch, Alkohol oder etwa Nikotin
verzichtet – oder auch nur auf Süßigkeiten. Eine andere Gruppe möchte spirituelle Erfahrungen machen und verzichtet daher für ein paar Tage ganz auf Nahrung. Das wäre für mich jetzt nichts, aber die Erzählungen von intensiveren Sinneswahrnehmungen finde ich sehr spannend. Kinder und Jugendliche im Wachstum, Kranke und alte Menschen dürfen nicht mit Nahrungsentzug fasten. Aber man kann auf den Medienkonsum verzichten oder zumindest diesen reduzieren. Umweltbewusste Menschen verzichten auch auf eine Flugreise und fahren zu ihrem Urlaubsort mit der Bahn. Ganz modern ist das Dopaminfasten bei dem man unserer permanenten Reizüberflutung entgegenwirkt.
Inwieweit ist Fasten ihrer Meinung nach noch zeitgemäß?
Es ist nicht nur zeitgemäß, sondern das Gebot der Stunde. Überspitzt gesagt, ist Fasten das Einzige, was uns noch retten kann. Wir sind es nicht mehr gewohnt, auf etwas zu warten oder zu verzichten. Alles muss schnell befriedigt werden. Fast food, fast fun, fast fashion, fast sex und so weiter. Dabei haben wir aber die Beziehung zur Welt und zu uns selbst oft verloren. Wir fühlen uns heimatlos in unserem eigenen Leben, sagt beispielsweise der Soziologe Hartmut Rosa. Durch die schnelle und einfache Erfüllung unserer Sehnsüchte erfahren wir keine Resonanz mehr. Mal ganz abgesehen davon, dass andere Menschen auf dieser Erde für unseren Konsum zahlen. Dafür dass wir uns quasi alles leisten können, werden anderswo Blut und Tränen vergossen. Von den Tieren in Massenhaltung und der ganzen Naturzerstörung einmal ganz zu schweigen.
Populär wurde das Intervallfasten. Auch aus Gesichtspunkten wie Gesundheit und Schönheit. Hat das etwas mit dem religiösen Fasten zu tun?
Jede Form von Verzicht kann ich auch spirituell nutzen. Das Wort Askese ist heute nur noch im religiösen Kontext gebraucht, kommt aber ursprünglich von den Sportlern im alten Griechenland. Sich für einen Wettkampf fit machen und trainieren, das ist ursprünglich Askese. Wenn ich den Verzicht als Stärkung meines Charakters wahrnehme, dann kann das Intervallfasten natürlich etwas mit dem religiösen Fasten zu tun haben. Grundsätzlich sollte aber vor jeder gravierenderen Form von Nahrungsentzug die Hausärztin oder der Hausarzt gefragt werden. Fasten im Ernährungsbereich kann sehr gesund sein – aber nicht für jede und jeden.