Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)
Richtungsstreit bei der „New York Times“
Die parteipolitische Unabhängigkeit der Gray Lady ist offenbar in Gefahr
WASHINGTON - Das erzwungene Ausscheiden eines amerikaweit anerkannten, auf Pandemien spezialisierten Reporters der „New York Times“(NYT) wirft Fragen nach der zukünftigen Ausrichtung der Zeitung auf. Geht die parteipolitische Unabhängigkeit verloren? Mit seinen Einschätzungen zur CoronaPandemie lag Donald McNeil meist richtig, machte sich damit aber im Lager der Trump-Fans keine Freunde. Nun wurde ihm eine Äußerung, die er vor zwei Jahren auf einer Studienreise tat, zum Verhängnis.
Als im April vor einem Jahr fast alles eintrat, was er vorausgesagt hatte, sei er in der öffentlichen Wahrnehmung der düstere Prophet der Seuche gewesen, schreibt Donald McNeil. Noch Wochen zuvor, erinnert sich der Reporter, habe er als der Verrückte gegolten, dem keiner glauben wollte, was er über das Coronavirus sagte: „Das ist es, The Big One, es wird eine Pandemie.“
Im Oktober dann, als er am Horizont die ersten Impfstoffe sah, sei er als dunkler Prophet mit optimistischer Ader charakterisiert worden. Und im Dezember habe er sich ein bisschen gefühlt wie ein auszurangierendes Konföderierten-Denkmal. „Ich denke, so langsam haben die Leute genug von mir. Sie warten darauf, dass ich einen Fehler mache, sodass sie mich runterziehen und auf mir herumtrampeln können.“
Vor wenigen Tagen hat McNeil, in der Redaktion der NYT lange Zeit zuständig für das Gesundheitswesen, auf der Online-Plattform „Medium“geschildert, wie er das zurückliegende Jahr erlebte: nämlich als wilde Fahrt auf der Achterbahn.
1976 fing er bei der NYT an, bei der Gray Lady, der Grauen Dame, wie man sie wegen ihres hochseriösen, zugleich spröden Erscheinungsbilds nannte. Später wurde er Auslandskorrespondent in Frankreich und in Südafrika, wo er preisgekrönte Reportagen über die Aids-Epidemie schrieb, Texte, die zu seinem Wechsel ins Gesundheitsressort führten. McNeil widmete sich der Vogelgrippe, der Schweinegrippe, dem ZikaVirus. Mit seiner Erfahrung und seinen Kontakten zu Virologen wurde er so etwas wie der Anker der Corona-Berichterstattung, sowohl in der Zeitung als auch im Nachrichtenpodcast „The Daily“, dem modernen Aushängeschild der Gray Lady.
Sars-CoV-2, warnte er am 27. Februar 2020, werde sich zu einer globalen Katastrophe ausweiten, ähnlich tödlich wie die Spanische Grippe. Damit war er der allseits anerkannte Prophet der Krise – bis er vor einem Monat seinen Hut nahm, nachdem ihm die Chefredaktion Letzteres nahegelegt hatte.
Die De-facto-Entlassung hat weder mit seinen Artikeln noch mit seinem Alter zu tun. McNeil ist 67, in den USA, wo man ein festes Rentenalter nicht kennt, gibt es etliche Printjournalisten seiner Generation, die das Profil ihrer Blätter nach wie vor prägen. McNeil wurde zum Verhängnis, dass er auf einer der Bildungsreisen, wie sie die „Times“ihren Lesern anbietet, das Schimpfwort „Nigger“benutzte.
Im Sommer 2019 begleitete er eine Gruppe von Schülern nach Peru. Es ging um indigene Traditionen und Gesundheitsfürsorge im ländlichen Raum. Die Eltern der Teenager hatten tief in die Tasche gegriffen, der zweiwöchige Trip kostete pro Person fast sechstausend Dollar, Flugtickets nicht mitgerechnet. Danach gingen bei der NYT Beschwerden über den Journalisten ein. Von mangelndem Respekt für andere Kulturen war die Rede, vor allem aber davon, dass er das diskriminierende N-Wort benutzte. In Peru hatte man darüber diskutiert, ob es richtig war, eine seinerzeit zwölfjährige Schülerin, die das Wort gebrauchte, vom Unterricht zu suspendieren. McNeil fragte, in welchem Zusammenhang sie es verwendet habe, ob sie rappte, einen Buchtitel zitierte oder es tatsächlich beleidigend meinte. Einige der Teenager, unterstützt von ihren Eltern, nahmen ihm übel, dass er sich dabei selbst des diskriminierenden Begriffs bediente.
In New York entschied Dean Baquet, der erste schwarze Chefredakteur in der Geschichte der Grauen Dame, dem Reporter eine „zweite Chance“zu geben, da er das N-Wort nicht in böswilliger Absicht wiedergegeben habe. Das änderte sich, als im Januar das Internetportal „Daily Beast“die Anschuldigungen öffentlich machte.
150 Redakteure der NYT schrieben einen Brief an den Herausgeber, um genauere Untersuchungen sowie eine Entschuldigung McNeils zu verlangen. Der bat daraufhin um Verzeihung, was aber nichts daran änderte, dass ihm die Chefetage empfahl, eigene Wege zu gehen. „Wir tolerieren keine rassistischen Sprüche, unabhängig von der Absicht“, sagte Baquet. Im Übrigen habe McNeil das Vertrauen der Redaktion verloren.
In seinem bei „Medium“veröffentlichten Essay fragt der Geschasste Wochen später mit sarkastischem Unterton, ob sein Rausschmiss – mit den Worten eines Magazins – tatsächlich „das Ende der ArschlochÄra“bei der NYT markiere. Und ob er in Peru mit unschuldig neugierigen Schülern diskutiert habe. Oder mit Privilegierten, die ein Studium an einer Elite-Uni anpeilten und ihren Lebenslauf noch ein wenig „aufpolieren“wollten.
Ben Smith, der Medienkolumnist des Blattes, stellt andere Fragen. „Ist die ,Times’ die führende Zeitung für gleichgesinnte, zur Linken tendierende Amerikaner? Oder versucht sie die Mitte zu halten, die scheinbar verschwindende Mitte in einem zutiefst gespaltenen Land?“Die gerade in der Trump-Ära rasant gestiegene Zahl von Digitalabonnenten, orakelt Smith, könnte zur Folge haben, dass man sich den Ansichten links denkender Leser stärker verpflichtet fühlt. Dass man sich in eine politische Fahrbahn drängen lässt, statt wie bisher genau auf parteipolitische Unabhängigkeit zu achten.
Tatsächlich hat die Marke NYT die Zeitungskrise bestens gemeistert. Im Jahr 2014, als Baquet Chefredakteur wurde, hatte sie rund zwei Millionen Abonnenten. Heute sind es mehr als sieben Millionen, wobei das Plus ausschließlich auf einen Zuwachs im Digitalen zurückgeht.
Donald Trump erwies sich als Glücksfall für das Blatt, gegen das er hemmungslos wetterte, auch wenn er ihm in Wahrheit größte Beachtung schenkte, symbolisiert es in seinen Augen doch jene New Yorker Elite, die ihn, den Angeber aus Queens, nie wirklich akzeptierte, obwohl er so gern dazugehört hätte. In seinen vier Jahren im Weißen Haus hat sich die Zahl der Leser verdoppelt – auch weil viele in der „New York Times“das Flaggschiff publizistischen Widerstands gegen Trump sahen.