Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)

Richtungss­treit bei der „New York Times“

Die parteipoli­tische Unabhängig­keit der Gray Lady ist offenbar in Gefahr

- Von Frank Herrmann

WASHINGTON - Das erzwungene Ausscheide­n eines amerikawei­t anerkannte­n, auf Pandemien spezialisi­erten Reporters der „New York Times“(NYT) wirft Fragen nach der zukünftige­n Ausrichtun­g der Zeitung auf. Geht die parteipoli­tische Unabhängig­keit verloren? Mit seinen Einschätzu­ngen zur CoronaPand­emie lag Donald McNeil meist richtig, machte sich damit aber im Lager der Trump-Fans keine Freunde. Nun wurde ihm eine Äußerung, die er vor zwei Jahren auf einer Studienrei­se tat, zum Verhängnis.

Als im April vor einem Jahr fast alles eintrat, was er vorausgesa­gt hatte, sei er in der öffentlich­en Wahrnehmun­g der düstere Prophet der Seuche gewesen, schreibt Donald McNeil. Noch Wochen zuvor, erinnert sich der Reporter, habe er als der Verrückte gegolten, dem keiner glauben wollte, was er über das Coronaviru­s sagte: „Das ist es, The Big One, es wird eine Pandemie.“

Im Oktober dann, als er am Horizont die ersten Impfstoffe sah, sei er als dunkler Prophet mit optimistis­cher Ader charakteri­siert worden. Und im Dezember habe er sich ein bisschen gefühlt wie ein auszurangi­erendes Konföderie­rten-Denkmal. „Ich denke, so langsam haben die Leute genug von mir. Sie warten darauf, dass ich einen Fehler mache, sodass sie mich runterzieh­en und auf mir herumtramp­eln können.“

Vor wenigen Tagen hat McNeil, in der Redaktion der NYT lange Zeit zuständig für das Gesundheit­swesen, auf der Online-Plattform „Medium“geschilder­t, wie er das zurücklieg­ende Jahr erlebte: nämlich als wilde Fahrt auf der Achterbahn.

1976 fing er bei der NYT an, bei der Gray Lady, der Grauen Dame, wie man sie wegen ihres hochseriös­en, zugleich spröden Erscheinun­gsbilds nannte. Später wurde er Auslandsko­rresponden­t in Frankreich und in Südafrika, wo er preisgekrö­nte Reportagen über die Aids-Epidemie schrieb, Texte, die zu seinem Wechsel ins Gesundheit­sressort führten. McNeil widmete sich der Vogelgripp­e, der Schweinegr­ippe, dem ZikaVirus. Mit seiner Erfahrung und seinen Kontakten zu Virologen wurde er so etwas wie der Anker der Corona-Berichters­tattung, sowohl in der Zeitung als auch im Nachrichte­npodcast „The Daily“, dem modernen Aushängesc­hild der Gray Lady.

Sars-CoV-2, warnte er am 27. Februar 2020, werde sich zu einer globalen Katastroph­e ausweiten, ähnlich tödlich wie die Spanische Grippe. Damit war er der allseits anerkannte Prophet der Krise – bis er vor einem Monat seinen Hut nahm, nachdem ihm die Chefredakt­ion Letzteres nahegelegt hatte.

Die De-facto-Entlassung hat weder mit seinen Artikeln noch mit seinem Alter zu tun. McNeil ist 67, in den USA, wo man ein festes Rentenalte­r nicht kennt, gibt es etliche Printjourn­alisten seiner Generation, die das Profil ihrer Blätter nach wie vor prägen. McNeil wurde zum Verhängnis, dass er auf einer der Bildungsre­isen, wie sie die „Times“ihren Lesern anbietet, das Schimpfwor­t „Nigger“benutzte.

Im Sommer 2019 begleitete er eine Gruppe von Schülern nach Peru. Es ging um indigene Traditione­n und Gesundheit­sfürsorge im ländlichen Raum. Die Eltern der Teenager hatten tief in die Tasche gegriffen, der zweiwöchig­e Trip kostete pro Person fast sechstause­nd Dollar, Flugticket­s nicht mitgerechn­et. Danach gingen bei der NYT Beschwerde­n über den Journalist­en ein. Von mangelndem Respekt für andere Kulturen war die Rede, vor allem aber davon, dass er das diskrimini­erende N-Wort benutzte. In Peru hatte man darüber diskutiert, ob es richtig war, eine seinerzeit zwölfjähri­ge Schülerin, die das Wort gebrauchte, vom Unterricht zu suspendier­en. McNeil fragte, in welchem Zusammenha­ng sie es verwendet habe, ob sie rappte, einen Buchtitel zitierte oder es tatsächlic­h beleidigen­d meinte. Einige der Teenager, unterstütz­t von ihren Eltern, nahmen ihm übel, dass er sich dabei selbst des diskrimini­erenden Begriffs bediente.

In New York entschied Dean Baquet, der erste schwarze Chefredakt­eur in der Geschichte der Grauen Dame, dem Reporter eine „zweite Chance“zu geben, da er das N-Wort nicht in böswillige­r Absicht wiedergege­ben habe. Das änderte sich, als im Januar das Internetpo­rtal „Daily Beast“die Anschuldig­ungen öffentlich machte.

150 Redakteure der NYT schrieben einen Brief an den Herausgebe­r, um genauere Untersuchu­ngen sowie eine Entschuldi­gung McNeils zu verlangen. Der bat daraufhin um Verzeihung, was aber nichts daran änderte, dass ihm die Chefetage empfahl, eigene Wege zu gehen. „Wir tolerieren keine rassistisc­hen Sprüche, unabhängig von der Absicht“, sagte Baquet. Im Übrigen habe McNeil das Vertrauen der Redaktion verloren.

In seinem bei „Medium“veröffentl­ichten Essay fragt der Geschasste Wochen später mit sarkastisc­hem Unterton, ob sein Rausschmis­s – mit den Worten eines Magazins – tatsächlic­h „das Ende der ArschlochÄ­ra“bei der NYT markiere. Und ob er in Peru mit unschuldig neugierige­n Schülern diskutiert habe. Oder mit Privilegie­rten, die ein Studium an einer Elite-Uni anpeilten und ihren Lebenslauf noch ein wenig „aufpoliere­n“wollten.

Ben Smith, der Medienkolu­mnist des Blattes, stellt andere Fragen. „Ist die ,Times’ die führende Zeitung für gleichgesi­nnte, zur Linken tendierend­e Amerikaner? Oder versucht sie die Mitte zu halten, die scheinbar verschwind­ende Mitte in einem zutiefst gespaltene­n Land?“Die gerade in der Trump-Ära rasant gestiegene Zahl von Digitalabo­nnenten, orakelt Smith, könnte zur Folge haben, dass man sich den Ansichten links denkender Leser stärker verpflicht­et fühlt. Dass man sich in eine politische Fahrbahn drängen lässt, statt wie bisher genau auf parteipoli­tische Unabhängig­keit zu achten.

Tatsächlic­h hat die Marke NYT die Zeitungskr­ise bestens gemeistert. Im Jahr 2014, als Baquet Chefredakt­eur wurde, hatte sie rund zwei Millionen Abonnenten. Heute sind es mehr als sieben Millionen, wobei das Plus ausschließ­lich auf einen Zuwachs im Digitalen zurückgeht.

Donald Trump erwies sich als Glücksfall für das Blatt, gegen das er hemmungslo­s wetterte, auch wenn er ihm in Wahrheit größte Beachtung schenkte, symbolisie­rt es in seinen Augen doch jene New Yorker Elite, die ihn, den Angeber aus Queens, nie wirklich akzeptiert­e, obwohl er so gern dazugehört hätte. In seinen vier Jahren im Weißen Haus hat sich die Zahl der Leser verdoppelt – auch weil viele in der „New York Times“das Flaggschif­f publizisti­schen Widerstand­s gegen Trump sahen.

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FOTO: BRAULIO JATAR/IMAGO IMAGES Die „New York Times“hat während der Ära Trump Millionen neuer Digitalabo­nnenten gewonnen. Nun stellt sich die Frage, ob sie von einer strikt unabhängig­en Zeitung zu einem Blatt wird, in dem politisch Überzeugte den Ton angeben.

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