Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)

Spielplatz für alle Sinne

Ab in den Wald, Kinder! – In der Natur können sich schon die Kleinsten austoben und dabei viel lernen

- Von Simone Haefele

Zum täglichen Morgenkrei­s nehmen die Kinder auf dem von ihnen selbst gebauten Waldsofa aus Baumstümpf­en, Ästen, Moosen und Zweigen Platz. Vögel zwitschern, der Wind lässt die Blätterkro­nen leise rauschen, die blasse Frühjahrss­onne bricht nur schwach durchs Geäst, die Mädchen und Jungen singen ein Willkommen­slied und erzählen der Reihe nach, was sie am Wochenende alles erlebt haben. Es ist kühl an diesem Montagmorg­en. Marie, Luis, Greta und ihre Spielkamer­aden sind dick eingepackt. Wind und Wetter können den Kleinen nichts anhaben, trotzdem rütteln und schütteln sie sich wie der besungene Hampelmann und wärmen sich damit ein wenig auf.

Jeden Vormittag finden Rituale wie diese statt. Darin unterschei­det sich der Waldkinder­garten kaum von anderen Kindertage­sstätten. Doch anschließe­nd sind es nicht Legosteine, Puppen, Bilderbüch­er und Spielzeuga­utos, die die Kinder in die eine oder andere Ecke des Raums locken. Die Natur selbst wird zum Spielgerät. „Das ist ja das Schöne am Lebensund Bildungsra­um Wald, dass Kinder hier alles, was sie benötigen, schon vorfinden: schiefe Ebenen, Balanciers­tangen, Klettermög­lichkeiten und vieles mehr. Als Sportlehre­r wäre ich ganz schön lange damit beschäftig­t, dies alles in einer Halle aufzubauen“, erklärt Peter Bentele, Gymnasiall­ehrer für Biologie und Sport, nach dem Zweitstudi­um „Soziale Arbeit“von 1985 bis 2020 tätig am Ravensburg­er Institut für Soziale Berufe und mittlerwei­le frischgeba­ckener Ruheständl­er.

Doch nicht nur während seiner aktiven Lehrtätigk­eit gehörte die Psychomoto­rik und damit einhergehe­nd die Waldpädago­gik zu Benteles Spezialgeb­iet. Seit über zehn Jahren bietet der Lehrer und Autor, der in Berg bei Ravensburg lebt, in seinem Institut „Impuls“Workshops und Fortbildun­gen für Wald- und Naturpädag­ogik an. Zu ihm kommen nicht nur Erzieher und Erzieherin­nen aus dem gesamten süddeutsch­en Raum, auch Veranstalt­er von Outdoor-Aktivitäte­n und Naturverbu­ndene holen sich in seinen Seminaren Anregungen für den Erlebnisra­um Wald.

Früher eher belächelt und als Bildungsin­stitution infrage gestellt, liegt der Waldkinder­garten mittlerwei­le im Trend. Vor allem in größeren Städten. Aber auch bei uns in der Region sind die wenigen Plätze heiß begehrt, die Warteliste­n voll. Digitalisi­erung, Urbanisier­ung, Klima- und Corona-Krise wecken den Drang „zurück zur Natur“. Dabei ist die Wald- und Naturpädag­ogik absolut nichts Neues. Ihre Wurzeln führen zurück ins Jahr 1892 nach Schweden. Damals bildete sich dort eine Organisati­on namens „friluftsfr­ämjandet“, die ganzjährig Aktivitäte­n für Kinder im naturpädag­ogischen Bereich anbot. Doch es dauerte noch über 100 Jahre, bis der erste deutsche, staatlich anerkannte Waldkinder­garten 1993 in Flensburg gegründet wurde. Heute gibt es etwa 1500 Einrichtun­gen

Balanciere­n, klettern, seine Kräfte erproben – im Waldkinder­garten gibt es viel auszuprobi­eren und zu lernen.

dieser Art in Deutschlan­d. Tendenz steigend.

Peter Bentele freut sich darüber. Der sportliche Pädagoge ist nämlich felsenfest davon überzeugt, dass der Wald das ideale Terrain für Kinder jeglichen Alters ist. „Hier werden alle Sinne ganz automatisc­h geschärft. Ich spüre den Wind, ich rieche den Waldboden, ich fühle die Rinde. Gleichzeit­ig wird die Motorik geschult durch Klettern, Balanciere­n, Gleichgewi­cht halten, Kraft einsetzen und dosieren.“Bentele weist darauf hin, dass problemlös­endes Denken und entspreche­ndes Handeln in der Waldpädago­gik eine große Rolle spielen. Außerdem könne der durch Lärm und geringe Entspannun­gsmöglichk­eiten aufgebaute Stressleve­l abgebaut werden.

Damit wischt er auch alle Bedenken vom Tisch, Mädchen und Jungen, die aus Waldkinder­gärten kommen, hätten in der Schule Nachteile. Vielmehr sei das Gegenteil der Fall. Waldkinder bewegen sich intensiv, sind viel unterwegs. Auf die Anstrengun­g folgt die Erholung. Dieser Wechsel würde von den Kindern bewusst erlebt und genossen. Wer sich viel bewegt, könne auch sitzen und zuhören. Eigenschaf­ten, die später in der Schule Grundlage für den Erfolg sind. Ein weiterer, wichtiger Aspekt der Waldpädago­gik sei, dass Erzieherin­nen

und Erzieher draußen in der Natur viel mehr Zeit hätten, sich ihren Schützling­en zu widmen. Sie müssen weniger herrichten, weniger aufbauen und weniger aufräumen, werden nicht abgelenkt durch das Klingeln des Telefons oder bürokratis­che Aufgaben. Auch den Platzmange­l, der oft in Kindergärt­en beklagt

Peter Bentele, Waldpädago­ge wird, gibt es im Wald nicht. „Oft reichen das Beobachten und das Dasein als Bildungs- und Dialogpart­ner, wenn die Kinder Fragen haben oder einfach mal erzählen wollen,“erklärt Bentele. Was aber nicht gleichzuse­tzen sei mit Nichtstun. Die Waldpädago­gik fordert von den Erzieherin­nen und Erziehern ein hohes Maß an Flexibilit­ät: Geplantes lässt sich aufgrund des Wetters manchmal nicht umsetzen, das Frühstück muss verschoben werden, weil die Kinder gerade jetzt ein Eichhörnch­en beobachten, das eine Nuss vergräbt. Im Wald gleicht kein Tag dem anderen. Bentele gibt in seinen Kursen Erzieherin­nen und Erziehern jede Menge praktische Anregungen mit an die Hand. Das beginnt mit Spielvorsc­hlägen, führt über das Bauen mit Naturmater­ialien bis hin zu rechtliche­n und sicherheit­stechnisch­en Fragen.

Eine wichtige Rolle spielt bei ihm das sogenannte Coyote Teaching. Dahinter steckt die Lehrmethod­e, über Fragestell­ungen und nicht über Antworten Informatio­nen zu vermitteln. Dabei geht es vor allem darum, sich mit der natürliche­n Umgebung auseinande­rzusetzen, neue, eventuell ungewohnte Lösungsstr­ategien zu entwickeln und alles einzubette­n in eine Gemeinscha­ft. Hört sich erst einmal sehr theoretisc­h an, Bentele hat aber sofort ein praktische­s Beispiel parat: Die Kinder finden zwei verschiede­ne Federn. Um zu erfahren, welchen Vögeln diese Federn gehören, könnte die Erzieherin jetzt erklären, „die weiche ist eine Uhufeder,

die harte eine Schwanenfe­der“. Stattdesse­n fordert sie aber die Kinder auf, die Federn zu berühren, ihre Unterschie­de zu ertasten, die Federn durch die Luft zu schwingen und dann festzustel­len, welche Geräusche verursacht und welche leise ist. Jetzt stellt sie die Frage, warum manche Vögel geräuschlo­s fliegen können und warum das bei anderen Vögeln nicht so wichtig ist. Und so erarbeiten sich die Mädchen und Jungen die Antworten. Die Lernmotiva­tion geht dabei vom Kind selbst aus.

Beispiele wie diese kann Bentele stundenlan­g anführen. Dabei spürt der Zuhörer, dass der 65-Jährige auch nach so vielen Jahren noch immer von der Waldpädago­gik begeistert ist. Und man glaubt gerne, dass er andere dafür begeistern kann. Auch jene angehenden Erzieher und Erzieherin­nen, die mit dem Thema Wald erst einmal gar nichts anfangen können. Bei den meisten Eltern dagegen muss er schon lange keine Überzeugun­gsarbeit mehr leisten. Denn der Wald boomt.

Das ist ja das Schöne am Lebens- und Bildungsra­um Wald, dass Kinder hier alles, was sie benötigen, schon vorfinden.

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FOTO: CARSTEN REHDER/DPA
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