Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)
Spielplatz für alle Sinne
Ab in den Wald, Kinder! – In der Natur können sich schon die Kleinsten austoben und dabei viel lernen
Zum täglichen Morgenkreis nehmen die Kinder auf dem von ihnen selbst gebauten Waldsofa aus Baumstümpfen, Ästen, Moosen und Zweigen Platz. Vögel zwitschern, der Wind lässt die Blätterkronen leise rauschen, die blasse Frühjahrssonne bricht nur schwach durchs Geäst, die Mädchen und Jungen singen ein Willkommenslied und erzählen der Reihe nach, was sie am Wochenende alles erlebt haben. Es ist kühl an diesem Montagmorgen. Marie, Luis, Greta und ihre Spielkameraden sind dick eingepackt. Wind und Wetter können den Kleinen nichts anhaben, trotzdem rütteln und schütteln sie sich wie der besungene Hampelmann und wärmen sich damit ein wenig auf.
Jeden Vormittag finden Rituale wie diese statt. Darin unterscheidet sich der Waldkindergarten kaum von anderen Kindertagesstätten. Doch anschließend sind es nicht Legosteine, Puppen, Bilderbücher und Spielzeugautos, die die Kinder in die eine oder andere Ecke des Raums locken. Die Natur selbst wird zum Spielgerät. „Das ist ja das Schöne am Lebensund Bildungsraum Wald, dass Kinder hier alles, was sie benötigen, schon vorfinden: schiefe Ebenen, Balancierstangen, Klettermöglichkeiten und vieles mehr. Als Sportlehrer wäre ich ganz schön lange damit beschäftigt, dies alles in einer Halle aufzubauen“, erklärt Peter Bentele, Gymnasiallehrer für Biologie und Sport, nach dem Zweitstudium „Soziale Arbeit“von 1985 bis 2020 tätig am Ravensburger Institut für Soziale Berufe und mittlerweile frischgebackener Ruheständler.
Doch nicht nur während seiner aktiven Lehrtätigkeit gehörte die Psychomotorik und damit einhergehend die Waldpädagogik zu Benteles Spezialgebiet. Seit über zehn Jahren bietet der Lehrer und Autor, der in Berg bei Ravensburg lebt, in seinem Institut „Impuls“Workshops und Fortbildungen für Wald- und Naturpädagogik an. Zu ihm kommen nicht nur Erzieher und Erzieherinnen aus dem gesamten süddeutschen Raum, auch Veranstalter von Outdoor-Aktivitäten und Naturverbundene holen sich in seinen Seminaren Anregungen für den Erlebnisraum Wald.
Früher eher belächelt und als Bildungsinstitution infrage gestellt, liegt der Waldkindergarten mittlerweile im Trend. Vor allem in größeren Städten. Aber auch bei uns in der Region sind die wenigen Plätze heiß begehrt, die Wartelisten voll. Digitalisierung, Urbanisierung, Klima- und Corona-Krise wecken den Drang „zurück zur Natur“. Dabei ist die Wald- und Naturpädagogik absolut nichts Neues. Ihre Wurzeln führen zurück ins Jahr 1892 nach Schweden. Damals bildete sich dort eine Organisation namens „friluftsfrämjandet“, die ganzjährig Aktivitäten für Kinder im naturpädagogischen Bereich anbot. Doch es dauerte noch über 100 Jahre, bis der erste deutsche, staatlich anerkannte Waldkindergarten 1993 in Flensburg gegründet wurde. Heute gibt es etwa 1500 Einrichtungen
Balancieren, klettern, seine Kräfte erproben – im Waldkindergarten gibt es viel auszuprobieren und zu lernen.
dieser Art in Deutschland. Tendenz steigend.
Peter Bentele freut sich darüber. Der sportliche Pädagoge ist nämlich felsenfest davon überzeugt, dass der Wald das ideale Terrain für Kinder jeglichen Alters ist. „Hier werden alle Sinne ganz automatisch geschärft. Ich spüre den Wind, ich rieche den Waldboden, ich fühle die Rinde. Gleichzeitig wird die Motorik geschult durch Klettern, Balancieren, Gleichgewicht halten, Kraft einsetzen und dosieren.“Bentele weist darauf hin, dass problemlösendes Denken und entsprechendes Handeln in der Waldpädagogik eine große Rolle spielen. Außerdem könne der durch Lärm und geringe Entspannungsmöglichkeiten aufgebaute Stresslevel abgebaut werden.
Damit wischt er auch alle Bedenken vom Tisch, Mädchen und Jungen, die aus Waldkindergärten kommen, hätten in der Schule Nachteile. Vielmehr sei das Gegenteil der Fall. Waldkinder bewegen sich intensiv, sind viel unterwegs. Auf die Anstrengung folgt die Erholung. Dieser Wechsel würde von den Kindern bewusst erlebt und genossen. Wer sich viel bewegt, könne auch sitzen und zuhören. Eigenschaften, die später in der Schule Grundlage für den Erfolg sind. Ein weiterer, wichtiger Aspekt der Waldpädagogik sei, dass Erzieherinnen
und Erzieher draußen in der Natur viel mehr Zeit hätten, sich ihren Schützlingen zu widmen. Sie müssen weniger herrichten, weniger aufbauen und weniger aufräumen, werden nicht abgelenkt durch das Klingeln des Telefons oder bürokratische Aufgaben. Auch den Platzmangel, der oft in Kindergärten beklagt
Peter Bentele, Waldpädagoge wird, gibt es im Wald nicht. „Oft reichen das Beobachten und das Dasein als Bildungs- und Dialogpartner, wenn die Kinder Fragen haben oder einfach mal erzählen wollen,“erklärt Bentele. Was aber nicht gleichzusetzen sei mit Nichtstun. Die Waldpädagogik fordert von den Erzieherinnen und Erziehern ein hohes Maß an Flexibilität: Geplantes lässt sich aufgrund des Wetters manchmal nicht umsetzen, das Frühstück muss verschoben werden, weil die Kinder gerade jetzt ein Eichhörnchen beobachten, das eine Nuss vergräbt. Im Wald gleicht kein Tag dem anderen. Bentele gibt in seinen Kursen Erzieherinnen und Erziehern jede Menge praktische Anregungen mit an die Hand. Das beginnt mit Spielvorschlägen, führt über das Bauen mit Naturmaterialien bis hin zu rechtlichen und sicherheitstechnischen Fragen.
Eine wichtige Rolle spielt bei ihm das sogenannte Coyote Teaching. Dahinter steckt die Lehrmethode, über Fragestellungen und nicht über Antworten Informationen zu vermitteln. Dabei geht es vor allem darum, sich mit der natürlichen Umgebung auseinanderzusetzen, neue, eventuell ungewohnte Lösungsstrategien zu entwickeln und alles einzubetten in eine Gemeinschaft. Hört sich erst einmal sehr theoretisch an, Bentele hat aber sofort ein praktisches Beispiel parat: Die Kinder finden zwei verschiedene Federn. Um zu erfahren, welchen Vögeln diese Federn gehören, könnte die Erzieherin jetzt erklären, „die weiche ist eine Uhufeder,
die harte eine Schwanenfeder“. Stattdessen fordert sie aber die Kinder auf, die Federn zu berühren, ihre Unterschiede zu ertasten, die Federn durch die Luft zu schwingen und dann festzustellen, welche Geräusche verursacht und welche leise ist. Jetzt stellt sie die Frage, warum manche Vögel geräuschlos fliegen können und warum das bei anderen Vögeln nicht so wichtig ist. Und so erarbeiten sich die Mädchen und Jungen die Antworten. Die Lernmotivation geht dabei vom Kind selbst aus.
Beispiele wie diese kann Bentele stundenlang anführen. Dabei spürt der Zuhörer, dass der 65-Jährige auch nach so vielen Jahren noch immer von der Waldpädagogik begeistert ist. Und man glaubt gerne, dass er andere dafür begeistern kann. Auch jene angehenden Erzieher und Erzieherinnen, die mit dem Thema Wald erst einmal gar nichts anfangen können. Bei den meisten Eltern dagegen muss er schon lange keine Überzeugungsarbeit mehr leisten. Denn der Wald boomt.
Das ist ja das Schöne am Lebens- und Bildungsraum Wald, dass Kinder hier alles, was sie benötigen, schon vorfinden.