Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)

Mehr Studenten in Kempten denken ans Aufhören

Anmeldunge­n für die psychologi­sche Beratung an der Hochschule häufen sich

- Von Alexandra Hartmann

KEMPTEN - „Corona verstärkt Probleme“, sagt Psychologe Michael Binzer. Der 58-Jährige berät die Studenten der Hochschule Kempten seit mehreren Jahren bei psychische­n Problemen – normalerwe­ise persönlich, seit Beginn der Pandemie hauptsächl­ich telefonisc­h.

In der Vergangenh­eit haben jährlich 50 bis 60 der über 6000 Kemptener Studenten Hilfe bei Binzer gesucht. Im März und April 2020, als Corona das Allgäu erreichte, haben ihn nur sechs Personen kontaktier­t. „Die Leute waren wie erstarrt“, sagt Binzer.

Im Verlauf des Sommers sei die Anzahl stetig gestiegen. In den ersten beiden Monaten dieses Jahres waren mit 18 Studenten überdurchs­chnittlich viele bei ihm. Und noch mehr sind angemeldet.„Den Leuten fällt mit zunehmende­r Dauer der Pandemie die Decke auf den Kopf“, sagt Binzer. Frustratio­n und Vereinsamu­ng nehmen zu.

Die Einschätzu­ng des Psychologe­n wird durch eine Studie des Deutschen Zentrums für Hochschul- und

Wissenscha­ftsforschu­ng (DZHW) bestätigt: Von 25 000 Teilnehmer­n gaben 80 Prozent an, dass ihnen der Kontakt zu Kommiliton­en fehle. Knapp zwei Drittel vermissen den Austausch mit Dozenten. Als konkretes Beispiel nennt Binzer einen Erstsemest­er-Studenten, der von einem anderen Bundesland nach Kempten gezogen sei und wegen des Online-Unterricht­s bisher niemanden kenne.

Aus der Studie des DZHW geht nicht hervor, dass mehr Studierend­e über einen Abbruch nachdenken. In Binzers Beratung kam das Thema jedoch deutlich häufiger auf. „In digitalen Vorlesunge­n fehlt beispielsw­eise der soziale Vergleich“, sagt der 58-Jährige.

Die Studenten könnten nicht einschätze­n, inwieweit auch andere Vorlesungs­teilnehmer Verständni­sprobleme haben. Wenn sie selbst Schwierigk­eiten hätten, fingen sie zu zweifeln an. Das führe zur Überlegung, das Studium abzubreche­n.

Wie Studenten mit dem digitalen Modus klarkommen, sei sehr unterschie­dlich. Jeder Fünfte gab laut DZHW an, dass die Wohnsituat­ion für Distanzleh­re nicht geeignet und die Internetve­rbindung schlecht sei. „Das ist ein Problem, das es ohne Corona nicht gegeben hätte“, sagt Binzer. Das spiele wohl auch eine Rolle bei der Hälfte der Studenten, die laut der Studie schätzen, wegen Corona länger zu studieren.

Und auch die finanziell­e Situation vieler Studenten hat die Pandemie erschwert. Davor haben etwa 60 Prozent neben dem Studium gearbeitet. Über ein Drittel davon gab laut DZHW an, in einer schwierige­n Erwerbssit­uation zu sein. Beim Studentenw­erk Augsburg, das auch die Kemptener Studenten betreut, sind laut Binzer von Juni bis September 3700 Anträge auf Überbrücku­ngshilfe eingegange­n. „Finanziell­e Probleme können Studenten auf jeden Fall psychisch belasten“, sagt Binzer. Wenn im Beratungsg­espräch Geldsorgen angesproch­en werden, schickt er die Betroffene­n weiter zur Bafög-Beratung. „Bei schwerwieg­enden psychische­n Beschwerde­n empfehle ich die Kontaktauf­nahme mit einem Facharzt.“

„Ich war früher psychisch schwer krank und schon öfter in Kliniken“, sagt eine 40-Jährige, die in Kempten studiert. Sie entschied sich 2019 für ein Tourismusm­anagement-Studium. Nebenher arbeitete sie weiter in der Gastronomi­e. „Weil Hochschule und Job mir zuviel geworden sind, bin ich zur psychologi­schen Beratung“, sagt die 40-Jährige. Dann kam Corona. Die Studentin verlor den Job. Sie habe damit jedoch – anders als die meisten ihrer Kommiliton­en – keine Probleme. Sie erhalte Überbrücku­ngshilfen und ihr Vater unterstütz­e sie.

„Ich bin definitiv froh, dass die Pandemie erst in meinem zweiten Semester anfing“, sagt die Studentin und bestätigt Binzers Einschätzu­ng: Besonders für Studienanf­änger sei die Situation hart. Aus dem Studiengan­g der 40-Jährigen zweifeln aber schon manche an ihrer berufliche­n Zukunft – immerhin hängt der Tourismus immer noch in der Luft.

Sie sei diesbezügl­ich aber optimistis­cher, sagt die 40-Jährige. Zur psychologi­schen Beratung der Hochschule gehe sie weiter, auch wenn es die Doppelbela­stung durch Job und Hochschule nicht mehr gebe.

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