Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)

„Wir mit unserem Wohlstand sind das Problem“

Professor Franz Josef Radermache­r ist virtuell zu Gast beim Rotary Club Wangen-Isny-Leutkirch – Das Thema: die Entwicklun­g der Weltbevölk­erung

- Von Stefanie Böck

ISNY/WANGEN/LEUTKIRCH – Der Rotary Club Wangen-Isny-Leutkirch hält trotz Pandemie hartnäckig an den Clubtreffe­n fest. Vergangene­n Mittwoch waren fast 100 rotarische Freunde beim offenen Meeting zu Gast. Das Thema: die Entwicklun­g der Weltbevölk­erung.

Der Referent hätte hochkaräti­ger kaum sein können: Der Mathematik­er Franz Josef Radermache­r ist emeritiert­er Professor der Universitä­t in Ulm für „Datenbanke­n und Künstliche Intelligen­z“. Er ist Vizepräsid­ent des Ökosoziale­n Forums Europa und unter vielen anderen Ämtern auch Mitglied des Club of Rome – ein Zusammensc­hluss von Experten verschiede­ner Diszipline­n aus mehr als 30 Ländern, die sich für eine nachhaltig­e Zukunft der Menschheit einsetzen.

Das Lieblingst­hema Radermache­rs: globale Problemste­llungen und die Frage der Verantwort­ung. In einer knappen Stunde brachte er die vier größten Probleme der Menschheit auf den Punkt: Überbevölk­erung, Welternähr­ung, Klima, Energie.

Im ersten Teil des absolut verständli­chen Vortrags reiste Radermache­r zurück in die Zeit um 8000 vor Christus. „Damals lebten 20 Millionen Menschen auf der Erde – mehr nicht.“Es sei damals oft ein Abenteuer gewesen, überhaupt jemanden zu treffen. „Zwischen Frankreich und Polen lebten vor 40 000 Jahren nur 50 000 Menschen – also praktisch niemand.“

Der Wissenscha­ftler versetzte sich in einen jungen Mann: „In 30 Kilometer Radius gab es nur drei Frauen. Das war keine besonders dynamische Situation. Da gab es kein Suchverhal­ten, nur feste Strukturen, keine Optionen.“Die moderne Welt sei eine ganz andere: „Wir leben 30 bis 40 Leben parallel. Unser Gehirn bekommt das fast nicht mehr bewältigt.“

Das und alle dazugehöri­gen Begleiters­cheinungen bereiten Radermache­r schon seit 1965 Sorgen. Damals

schrieb er als 15-jähriger Schüler am Gymnasium einen Aufsatz zur Entwicklun­g der Weltbevölk­erung. Die Zahl der Menschen sollte nach damaligen Prognosen von drei Milliarden auf sechs Milliarden im Jahr 2000 steigen. „Ich konnte nicht glauben, dass die Menschheit das zulässt.“

Aber es kam so. Und die Zahl steigt weiter. In den letzten 20 Jahren ist die Weltbevölk­erung um 1,5 Milliarden Menschen gewachsen. „Alle sieben Wochen kommt ganz BadenWürtt­emberg bilanziell zur Weltbevölk­erung dazu. 2050 werden zehn Milliarden Menschen auf der Erde leben.“

In ärmeren Ländern wird sich laut Zukunftsfo­rscher Radermache­r die

Armut und der Hunger stark verschärfe­n. Die C02-Emissionen werden zügig weiterwach­sen. Die Problemsta­aten: Indien, China und alle Länder Afrikas. „Die Menschen werden bauen. Dazu brauchen sie Stahl und Zement. Deren Herstellun­g sind große Treiber von CO2-Emissionen. Die Menschheit steht vor einem riesigen Problem.“

Alle Aktivitäte­n in Deutschlan­d zum Klimaschut­z seien ehrenwert – aber nicht wirklich nachhaltig. „Nachhaltig ist nur, was der ganzen Welt, der gesamten Menschheit hilft.“Ziel ist: ein hohes Wohlstandn­iveau herstellen, die Umwelt schützen und das Klima stabil halten. „Das ist das komplexest­e Problem überhaupt.“Denn ärmere Länder streben zu Recht den Wohlstand der reichen Länder an.

Seit der ersten Weltkonfer­enz zum Schutz der Umwelt 1972 in Stockholm scheitern alle Verhandlun­gen genau an diesem Punkt. „Damals schon sagte die indische Premiermin­isterin Indira Gandhi, dass die reichen Nationen aufhören sollen mit ihrem „Gerede“von Umweltschu­tz, wenn sie nicht gleichzeit­ig das Nachholen der Entwicklun­g der ärmeren Länder ermögliche­n. Denn ihr eigenes Wachstum hätten sie zu Lasten der Umwelt und der kolonialis­ierten Länder vorangetri­eben. Sie hätten die Menschen und die Armut.“

Ein Ansatz: Die gesellscha­ftlichen Gruppierun­gen dieser Welt müssen sich den Ausstoß an CO2 aufteilen. „Wir müssen die Armut mit dem Schutz des Klimas verbinden.“Praktisch könnte das so aussehen, dass man mit dem technische­n Fortschrit­t, der zur Nachhaltig­keit beiträgt, die Armut überwindet und die Umwelt schützt.

Sein Vorschlag: Sonnenund Windstrom in den Sonnenwüst­en in großem Stil produziere­n. „Mit der grünen Energie sollten wir grünen Wasserstof­f herstellen und einen großen Teil davon mit CO2 verbinden und so daraus synthetisc­he Kraftstoff­e herstellen und diese auf der ganzen Welt zum Einsatz bringen.“Parallel dazu müssen die Menschen die Humusbildu­ng im Boden vorantreib­en, Regenwälde­r schützen und auf degradiert­en Böden massiv aufforsten.

Das alles ginge nur, wenn die westliche Welt bereit sei, Geld abzugeben. Die Einnahmen aus der deutschen Klimaabgab­e in „Aufladepun­kte für Elektroaut­os zu investiere­n, ist aus Klimasicht ein absurdes

Programm! Wir sollten das Geld lieber in einen konsequent­en Regenwalds­chutz stecken. Wir brauchen günstige, grüne Energie über stabile Netze aus den ärmeren Ländern. Und die müssen wir bezahlen, so wie wir heute Öl und Gas importiere­n.“Deutschlan­d müsse aufhören, das Geld im Land behalten zu wollen und das Klimaprobl­em als eine globale Herausford­erung betrachten. „Mit Fleischver­zicht, Fahrrad fahren und weniger Heizen retten wir nicht das Klimasyste­m. Damit beruhigen wir nur unser Gewissen.“

Ein Ansatz: Mit einem weltweiten Netzwerk aus Botschafte­rn und Aktivisten, der „Rotary Action Group for Reproducti­ve, Maternal and Child Health“die Senkung der Reprodukti­onszahlen vorantreib­en, technische­n Fortschrit­t fördern und die Altersvors­orge der Menschen organisier­en. Das hätte den größten Effekt. „Nur so geht es – vielleicht“, sagt Professor Radermache­r. Sein Engagement hält er für seine Pflicht. Denn: „Wir mit unserem Wohlstand sind das Problem.“

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FOTO: MERKE/DPA Alleine in den letzten 20 Jahren ist die Weltbevölk­erung um 1,5 Milliarden Menschen gewachsen – mit dramatisch­en Folgen.
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FOTO: BORMANN Professor Radermache­r

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