Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)
„Wir mit unserem Wohlstand sind das Problem“
Professor Franz Josef Radermacher ist virtuell zu Gast beim Rotary Club Wangen-Isny-Leutkirch – Das Thema: die Entwicklung der Weltbevölkerung
ISNY/WANGEN/LEUTKIRCH – Der Rotary Club Wangen-Isny-Leutkirch hält trotz Pandemie hartnäckig an den Clubtreffen fest. Vergangenen Mittwoch waren fast 100 rotarische Freunde beim offenen Meeting zu Gast. Das Thema: die Entwicklung der Weltbevölkerung.
Der Referent hätte hochkarätiger kaum sein können: Der Mathematiker Franz Josef Radermacher ist emeritierter Professor der Universität in Ulm für „Datenbanken und Künstliche Intelligenz“. Er ist Vizepräsident des Ökosozialen Forums Europa und unter vielen anderen Ämtern auch Mitglied des Club of Rome – ein Zusammenschluss von Experten verschiedener Disziplinen aus mehr als 30 Ländern, die sich für eine nachhaltige Zukunft der Menschheit einsetzen.
Das Lieblingsthema Radermachers: globale Problemstellungen und die Frage der Verantwortung. In einer knappen Stunde brachte er die vier größten Probleme der Menschheit auf den Punkt: Überbevölkerung, Welternährung, Klima, Energie.
Im ersten Teil des absolut verständlichen Vortrags reiste Radermacher zurück in die Zeit um 8000 vor Christus. „Damals lebten 20 Millionen Menschen auf der Erde – mehr nicht.“Es sei damals oft ein Abenteuer gewesen, überhaupt jemanden zu treffen. „Zwischen Frankreich und Polen lebten vor 40 000 Jahren nur 50 000 Menschen – also praktisch niemand.“
Der Wissenschaftler versetzte sich in einen jungen Mann: „In 30 Kilometer Radius gab es nur drei Frauen. Das war keine besonders dynamische Situation. Da gab es kein Suchverhalten, nur feste Strukturen, keine Optionen.“Die moderne Welt sei eine ganz andere: „Wir leben 30 bis 40 Leben parallel. Unser Gehirn bekommt das fast nicht mehr bewältigt.“
Das und alle dazugehörigen Begleiterscheinungen bereiten Radermacher schon seit 1965 Sorgen. Damals
schrieb er als 15-jähriger Schüler am Gymnasium einen Aufsatz zur Entwicklung der Weltbevölkerung. Die Zahl der Menschen sollte nach damaligen Prognosen von drei Milliarden auf sechs Milliarden im Jahr 2000 steigen. „Ich konnte nicht glauben, dass die Menschheit das zulässt.“
Aber es kam so. Und die Zahl steigt weiter. In den letzten 20 Jahren ist die Weltbevölkerung um 1,5 Milliarden Menschen gewachsen. „Alle sieben Wochen kommt ganz BadenWürttemberg bilanziell zur Weltbevölkerung dazu. 2050 werden zehn Milliarden Menschen auf der Erde leben.“
In ärmeren Ländern wird sich laut Zukunftsforscher Radermacher die
Armut und der Hunger stark verschärfen. Die C02-Emissionen werden zügig weiterwachsen. Die Problemstaaten: Indien, China und alle Länder Afrikas. „Die Menschen werden bauen. Dazu brauchen sie Stahl und Zement. Deren Herstellung sind große Treiber von CO2-Emissionen. Die Menschheit steht vor einem riesigen Problem.“
Alle Aktivitäten in Deutschland zum Klimaschutz seien ehrenwert – aber nicht wirklich nachhaltig. „Nachhaltig ist nur, was der ganzen Welt, der gesamten Menschheit hilft.“Ziel ist: ein hohes Wohlstandniveau herstellen, die Umwelt schützen und das Klima stabil halten. „Das ist das komplexeste Problem überhaupt.“Denn ärmere Länder streben zu Recht den Wohlstand der reichen Länder an.
Seit der ersten Weltkonferenz zum Schutz der Umwelt 1972 in Stockholm scheitern alle Verhandlungen genau an diesem Punkt. „Damals schon sagte die indische Premierministerin Indira Gandhi, dass die reichen Nationen aufhören sollen mit ihrem „Gerede“von Umweltschutz, wenn sie nicht gleichzeitig das Nachholen der Entwicklung der ärmeren Länder ermöglichen. Denn ihr eigenes Wachstum hätten sie zu Lasten der Umwelt und der kolonialisierten Länder vorangetrieben. Sie hätten die Menschen und die Armut.“
Ein Ansatz: Die gesellschaftlichen Gruppierungen dieser Welt müssen sich den Ausstoß an CO2 aufteilen. „Wir müssen die Armut mit dem Schutz des Klimas verbinden.“Praktisch könnte das so aussehen, dass man mit dem technischen Fortschritt, der zur Nachhaltigkeit beiträgt, die Armut überwindet und die Umwelt schützt.
Sein Vorschlag: Sonnenund Windstrom in den Sonnenwüsten in großem Stil produzieren. „Mit der grünen Energie sollten wir grünen Wasserstoff herstellen und einen großen Teil davon mit CO2 verbinden und so daraus synthetische Kraftstoffe herstellen und diese auf der ganzen Welt zum Einsatz bringen.“Parallel dazu müssen die Menschen die Humusbildung im Boden vorantreiben, Regenwälder schützen und auf degradierten Böden massiv aufforsten.
Das alles ginge nur, wenn die westliche Welt bereit sei, Geld abzugeben. Die Einnahmen aus der deutschen Klimaabgabe in „Aufladepunkte für Elektroautos zu investieren, ist aus Klimasicht ein absurdes
Programm! Wir sollten das Geld lieber in einen konsequenten Regenwaldschutz stecken. Wir brauchen günstige, grüne Energie über stabile Netze aus den ärmeren Ländern. Und die müssen wir bezahlen, so wie wir heute Öl und Gas importieren.“Deutschland müsse aufhören, das Geld im Land behalten zu wollen und das Klimaproblem als eine globale Herausforderung betrachten. „Mit Fleischverzicht, Fahrrad fahren und weniger Heizen retten wir nicht das Klimasystem. Damit beruhigen wir nur unser Gewissen.“
Ein Ansatz: Mit einem weltweiten Netzwerk aus Botschaftern und Aktivisten, der „Rotary Action Group for Reproductive, Maternal and Child Health“die Senkung der Reproduktionszahlen vorantreiben, technischen Fortschritt fördern und die Altersvorsorge der Menschen organisieren. Das hätte den größten Effekt. „Nur so geht es – vielleicht“, sagt Professor Radermacher. Sein Engagement hält er für seine Pflicht. Denn: „Wir mit unserem Wohlstand sind das Problem.“