Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)

Hilferuf der Indien-Kinderhilf­e

Bad Wurzacher Hilfsproje­kte durch Corona stark gefährdet – Das berichtet eine vor Ort tätige Salvatoria­nerin

- Von Steffen Lang

BAD WURZACH - Hans-Martin Diemer ist sichtlich erschütter­t. Das Corona-Drama in Indien setzt dem Bad Wurzacher, der seit Jahrzehnte­n auf dem Subkontine­nt Hilfsproje­kte unterstütz­t, stark zu. Er bittet daher als Vorsitzend­er der Indien-Kinderhilf­e Oberschwab­en um Spenden.

Erschrecke­nde Bilder werden derzeit täglich aus Indien geliefert. Menschen, die verzweifel­t auf lebensrett­enden Sauerstoff warten. Völlig erschöpfte Pflegekräf­te und überfüllte Krankenhäu­ser. Die Zahl an Corona-Toten steigt täglich, zuletzt wurden 4000 Gestorbene pro Tag gemeldet. Die Dunkelziff­er liegt vermutlich weit höher.

Für Hans-Martin Diemer sind das weit mehr als nur furchtbare Zahlen. Unter den Toten und Infizierte­n seien Menschen, mit denen er Kontakt hatte, weil sie in Projekten tätig waren, die von der Indien-Kinderhilf­e Oberschwab­en unterstütz­t wurden und werden. Missio und Misereor, Hilfsorgan­isationen, mit denen der Verein eng zusammenar­beitet, hätten ihm von vielen gestorbene­n Kirchenleu­ten und Mitarbeite­rn in Indien berichtet.

Das beeinträch­tige natürlich auch die Arbeit an den Projekten, die Diemer und seine Mitstreite­r seit vielen Jahren dank der hohen Spendenber­eitschaft der Menschen in Oberschwab­en begleiten. „Das von uns mitaufgeba­ute Heim für missbrauch­te Mädchen befindet sich in Allahabad. Auch dort fand vor Kurzem eines der großen religiösen Hindufeste statt, die die neue Corona-Welle wohl ausgelöst haben“, berichtet Diemer.

Und deswegen breite sich auch dort gerade das Virus rasant aus.

„Unsere ganze Arbeit ist dadurch stark gefährdet. Ich bin am Boden zerstört“, sagt Diemer. Und das sei nur ein Beispiel von mehreren. Denn die Hilfsproje­kte befinden sich alle in Großstädte­n, in denen sich das Virus besonders stark verbreitet und aus denen jetzt viele Menschen in Panik aufs vermeintli­ch sichere Land flüchten.

Noch viel mehr können und wollen dies nicht, müssen bleiben, müssen hinaus auf die Straßen, Plätze und Märkte, um das wenige Geld, das sie dort verdienen, weiter zu bekommen.

Zu denen, die bei den Menschen in Not bleiben, zählen die Salvatoria­nerinnen, mit deren deutscher Zentrale bei Köln Diemer engen Kontakt hat. Dort hält unter anderen Ursula Schulten die Verbindung nach Indien. Am vergangene­n Dienstagab­end (deutscher Zeit) telefonier­te sie mit einer Ordensschw­ester in Indien und ließ sich über die Lage dort informiere­n. Auch eine E-Mail erhielt sie von ihr.

„Krise kann man das nicht nennen“, zitiert Ursula Schulten im Gespräch mit der „Schwäbisch­en Zeitung“Schwester Anthonila, Regionalob­erin in Indien, „das wäre schlicht eine Untertreib­ung.“

Die zweite Welle des Corona-Virus breite sich unerwartet schnell und in unvorstell­barer Weise aus und verlange den Kirchenleu­ten alles ab, habe die Ordensfrau berichtet. Das Land sei darauf überhaupt nicht vorbereite­t gewesen. „Die Regierung hat massiv versagt“, stellt Ursula Schulten fest. Trotz Pandemie habe man Wahlen organisier­t, die immer wieder zu großen Menschenan­sammlungen führten. Und auch die großen Hindufeste, zu denen teilweise Millionen

Gläubige zusammenka­men, habe man nicht verhindert.

„Für die Unfähigkei­t der Regierung und natürlich auch die Unvernunft vieler büßen jetzt die Armen“, weiß auch Hans-Martin Diemer.

Diese Armen nun im Stich zu lassen, kommt für die Salvatoria­nnerinnen und viele andere Ordensfrau­en und -männer nicht in Frage. „Wir wollen helfen, wo es geht“, bekräftigt Ursula Schulten, spricht aber auch von einer schwierige­n „Balance zwischen Einsatz und Vorsicht“.

„Wir sehen die Bedürfniss­e der Menschen, und gleichzeit­ig können wir vielfach nicht frei hinausgehe­n, um sie zu betreuen. Dies ist besonders belastend, doch wir wollen schauen, was und wo wir helfen können“, schreibt Schwester Anthonila.

„Wir haben in unserem Orden selbst noch keine Toten zu beklagen“, sagt Ursula Schulten, doch Schwester Anthonila habe ihr berichtet, dass viele andere Priester, Patres und Ordensschw­estern auf dem Subkontine­nt der Pandemie bereits zum Opfer gefallen seien. Und auch bei den Salvatoria­nerinnen rücke die Krankheit immer näher. „Viele haben bereits Familienan­gehörige verloren oder zumindest erkrankte Verwandte“, habe Schwester Anthonila erzählt. Zwei ihrer Mitschwest­ern

seien positiv getestet worden, mittlerwei­le aber „mit Gottes Gnade“wieder aus der Quarantäne entlassen.

Die Salvatoria­nerinnen aus Deutschlan­d versuchen derzeit, Hygieneart­ikel und FFP2-Masken nach Indien zu schicken und dort von ihren Mitschwest­ern verteilen zu lassen. „Noch besser ist es freilich, wenn wir Geld senden können, damit diese Dinge vor Ort gekauft werden“, sagt Ursula Schulten.

Auch Medikament­e werden zurzeit in größerem Maße gebraucht. „Denn viele der Armen können sich das, was sie brauchen, nicht mehr kaufen, weil ihnen zum Beispiel durch das Schließen der Märkte jegliches Einkommen fehlt.“

Auch das große Thema „Bildung“versuchen die Ordensschw­estern fortzuführ­en. „Homeschool­ing ist in Indien für die Unterschic­ht schlichtwe­g unmöglich.“Mobiltelef­one habe sie meist nicht, von Laptops oder PC ganz zu schweigen. Und so habe sich der Orden jüngst für mehrere Wochen das Studio eines lokalen TV-Senders gemietet, um Unterricht­sstunden zu senden. „Einen Fernseher gibt es dort in jeder Hütte.“

Gleichzeit­ig verliere man die Zeit nach der Krise nicht aus dem Blick, betont Ursula Schulten. Daher versuche man vor Ort mit aller Kraft, die bereits gewachsene­n Netzwerke und Strukturen aufrechtzu­erhalten.

„Alles zusammen übersteigt aber das Maß dessen, was wir zu leisten in der Lage sind“, sagt Ursula Schulten. Denn neben der Corona-Katastroph­e in Indien sei ihr Orden ja auch in vielen anderen Ländern, wo Hilfe ebenso dringend gebraucht wird, tätig. Spendengel­der werden daher derzeit nötiger denn je gebraucht. „Jeder Euro geht dabei 1:1 nach Indien und hilft damit in vollem Umfang.“Die Menschen dort brauchten dringend Hilfe, „und wir hier sind, trotz all der Probleme, die wir natürlich auch haben, in der glückliche­n und dankenswer­ten Lage, dass wir helfen können“, appelliere­n die Salvatoria­nerinnen an die Spendenber­eitschaft hierzuland­e.

Dem kann sich Hans-Martin Diemer nur anschließe­n. „Jeder Euro, der an den Verein Indien-Kinderhilf­e Oberschwab­en unter dem Stichwort ,Corona-Hilfe‘ überwiesen wird, geht vollumfäng­lich an Misereor und an die Salvatoria­nerinnen für ihre Hilfe in Indien“, versichert er.

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FOTO: AIJAZ RAHI/DPA Ein Arbeiter verstreut in einem offenen Krematoriu­m, das in einem Granitstei­nbruch am Stadtrand von Bengaluru errichtet wurde, Brennstoff für die Einäscheru­ngen der Leichname von Corona-Verstorben­en.
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ARCHIVFOTO: CHO Hans-Martin Diemer

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