Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)
Hilferuf der Indien-Kinderhilfe
Bad Wurzacher Hilfsprojekte durch Corona stark gefährdet – Das berichtet eine vor Ort tätige Salvatorianerin
BAD WURZACH - Hans-Martin Diemer ist sichtlich erschüttert. Das Corona-Drama in Indien setzt dem Bad Wurzacher, der seit Jahrzehnten auf dem Subkontinent Hilfsprojekte unterstützt, stark zu. Er bittet daher als Vorsitzender der Indien-Kinderhilfe Oberschwaben um Spenden.
Erschreckende Bilder werden derzeit täglich aus Indien geliefert. Menschen, die verzweifelt auf lebensrettenden Sauerstoff warten. Völlig erschöpfte Pflegekräfte und überfüllte Krankenhäuser. Die Zahl an Corona-Toten steigt täglich, zuletzt wurden 4000 Gestorbene pro Tag gemeldet. Die Dunkelziffer liegt vermutlich weit höher.
Für Hans-Martin Diemer sind das weit mehr als nur furchtbare Zahlen. Unter den Toten und Infizierten seien Menschen, mit denen er Kontakt hatte, weil sie in Projekten tätig waren, die von der Indien-Kinderhilfe Oberschwaben unterstützt wurden und werden. Missio und Misereor, Hilfsorganisationen, mit denen der Verein eng zusammenarbeitet, hätten ihm von vielen gestorbenen Kirchenleuten und Mitarbeitern in Indien berichtet.
Das beeinträchtige natürlich auch die Arbeit an den Projekten, die Diemer und seine Mitstreiter seit vielen Jahren dank der hohen Spendenbereitschaft der Menschen in Oberschwaben begleiten. „Das von uns mitaufgebaute Heim für missbrauchte Mädchen befindet sich in Allahabad. Auch dort fand vor Kurzem eines der großen religiösen Hindufeste statt, die die neue Corona-Welle wohl ausgelöst haben“, berichtet Diemer.
Und deswegen breite sich auch dort gerade das Virus rasant aus.
„Unsere ganze Arbeit ist dadurch stark gefährdet. Ich bin am Boden zerstört“, sagt Diemer. Und das sei nur ein Beispiel von mehreren. Denn die Hilfsprojekte befinden sich alle in Großstädten, in denen sich das Virus besonders stark verbreitet und aus denen jetzt viele Menschen in Panik aufs vermeintlich sichere Land flüchten.
Noch viel mehr können und wollen dies nicht, müssen bleiben, müssen hinaus auf die Straßen, Plätze und Märkte, um das wenige Geld, das sie dort verdienen, weiter zu bekommen.
Zu denen, die bei den Menschen in Not bleiben, zählen die Salvatorianerinnen, mit deren deutscher Zentrale bei Köln Diemer engen Kontakt hat. Dort hält unter anderen Ursula Schulten die Verbindung nach Indien. Am vergangenen Dienstagabend (deutscher Zeit) telefonierte sie mit einer Ordensschwester in Indien und ließ sich über die Lage dort informieren. Auch eine E-Mail erhielt sie von ihr.
„Krise kann man das nicht nennen“, zitiert Ursula Schulten im Gespräch mit der „Schwäbischen Zeitung“Schwester Anthonila, Regionaloberin in Indien, „das wäre schlicht eine Untertreibung.“
Die zweite Welle des Corona-Virus breite sich unerwartet schnell und in unvorstellbarer Weise aus und verlange den Kirchenleuten alles ab, habe die Ordensfrau berichtet. Das Land sei darauf überhaupt nicht vorbereitet gewesen. „Die Regierung hat massiv versagt“, stellt Ursula Schulten fest. Trotz Pandemie habe man Wahlen organisiert, die immer wieder zu großen Menschenansammlungen führten. Und auch die großen Hindufeste, zu denen teilweise Millionen
Gläubige zusammenkamen, habe man nicht verhindert.
„Für die Unfähigkeit der Regierung und natürlich auch die Unvernunft vieler büßen jetzt die Armen“, weiß auch Hans-Martin Diemer.
Diese Armen nun im Stich zu lassen, kommt für die Salvatoriannerinnen und viele andere Ordensfrauen und -männer nicht in Frage. „Wir wollen helfen, wo es geht“, bekräftigt Ursula Schulten, spricht aber auch von einer schwierigen „Balance zwischen Einsatz und Vorsicht“.
„Wir sehen die Bedürfnisse der Menschen, und gleichzeitig können wir vielfach nicht frei hinausgehen, um sie zu betreuen. Dies ist besonders belastend, doch wir wollen schauen, was und wo wir helfen können“, schreibt Schwester Anthonila.
„Wir haben in unserem Orden selbst noch keine Toten zu beklagen“, sagt Ursula Schulten, doch Schwester Anthonila habe ihr berichtet, dass viele andere Priester, Patres und Ordensschwestern auf dem Subkontinent der Pandemie bereits zum Opfer gefallen seien. Und auch bei den Salvatorianerinnen rücke die Krankheit immer näher. „Viele haben bereits Familienangehörige verloren oder zumindest erkrankte Verwandte“, habe Schwester Anthonila erzählt. Zwei ihrer Mitschwestern
seien positiv getestet worden, mittlerweile aber „mit Gottes Gnade“wieder aus der Quarantäne entlassen.
Die Salvatorianerinnen aus Deutschland versuchen derzeit, Hygieneartikel und FFP2-Masken nach Indien zu schicken und dort von ihren Mitschwestern verteilen zu lassen. „Noch besser ist es freilich, wenn wir Geld senden können, damit diese Dinge vor Ort gekauft werden“, sagt Ursula Schulten.
Auch Medikamente werden zurzeit in größerem Maße gebraucht. „Denn viele der Armen können sich das, was sie brauchen, nicht mehr kaufen, weil ihnen zum Beispiel durch das Schließen der Märkte jegliches Einkommen fehlt.“
Auch das große Thema „Bildung“versuchen die Ordensschwestern fortzuführen. „Homeschooling ist in Indien für die Unterschicht schlichtweg unmöglich.“Mobiltelefone habe sie meist nicht, von Laptops oder PC ganz zu schweigen. Und so habe sich der Orden jüngst für mehrere Wochen das Studio eines lokalen TV-Senders gemietet, um Unterrichtsstunden zu senden. „Einen Fernseher gibt es dort in jeder Hütte.“
Gleichzeitig verliere man die Zeit nach der Krise nicht aus dem Blick, betont Ursula Schulten. Daher versuche man vor Ort mit aller Kraft, die bereits gewachsenen Netzwerke und Strukturen aufrechtzuerhalten.
„Alles zusammen übersteigt aber das Maß dessen, was wir zu leisten in der Lage sind“, sagt Ursula Schulten. Denn neben der Corona-Katastrophe in Indien sei ihr Orden ja auch in vielen anderen Ländern, wo Hilfe ebenso dringend gebraucht wird, tätig. Spendengelder werden daher derzeit nötiger denn je gebraucht. „Jeder Euro geht dabei 1:1 nach Indien und hilft damit in vollem Umfang.“Die Menschen dort brauchten dringend Hilfe, „und wir hier sind, trotz all der Probleme, die wir natürlich auch haben, in der glücklichen und dankenswerten Lage, dass wir helfen können“, appellieren die Salvatorianerinnen an die Spendenbereitschaft hierzulande.
Dem kann sich Hans-Martin Diemer nur anschließen. „Jeder Euro, der an den Verein Indien-Kinderhilfe Oberschwaben unter dem Stichwort ,Corona-Hilfe‘ überwiesen wird, geht vollumfänglich an Misereor und an die Salvatorianerinnen für ihre Hilfe in Indien“, versichert er.