Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)
„Corona-Pandemie wirkt wie Brennglas“
Vincera-Klinik-Chefarzt und -Geschäftsführer sprechen über psychische Erkrankungen
BAD WALDSEE - Jürgen Kräutter ist seit Jahresbeginn Chefarzt der Vincera-Klinik im Kurgebiet von Bad Waldsee. Seine Behandlungsschwerpunkte reichen von Burnout, Depression und Ängsten über somatoforme Störungen bis hin zu Traumafolgestörungen. Nicht nur in Coronazeiten sind von diesen psychischen Erkrankungen viele Menschen betroffen und suchen stationäre Hilfe. Für die SZ sprach Sabine Ziegler mit dem promovierten Facharzt für Psychosomatik und Psychotherapie sowie mit Berthold Müller, einem der beiden Klinik-Geschäftsführer.
Was macht Corona mit unserer Psyche?
Kräutter: Immer mehr Menschen fühlen sich sozial isoliert und meist ältere Menschen sind einsam. Darüber hinaus kann es bedingt durch das Zusammenleben auf engem Raum zu familiären Konflikten kommen. Kitas oder Schulen sind nur eingeschränkt geöffnet und viele Eltern arbeiten im Homeoffice. Bei gleichbleibenden Leistungsanforderungen fehlen damit Möglichkeiten des Rückzugs aber auch des Ausgleichs und des aktiven Auftankens. Das Leben wird ereignisarm und viele Möglichkeiten, für sich selbst und die eigene Stimmung Gutes zu tun, stehen derzeit nicht zur Verfügung. Das bringt uns Menschen in eine zusätzliche Belastungssituation, die neben den ohnehin eingeschränkten sozialen Kontakten in vielen Fällen die familiäre Verbundsituation gefährden können.
Steigt das Risiko für eine Depression oder einen Burnout durch anhaltenden Corona-Stress?
Kräutter: Corona entzündet bereits schwelende Konflikte. Die Pandemie wirkt wie ein Brennglas, unter dem herausfordernde Situationen, die bisher nicht sichtbar waren, offensichtlich werden. Menschen, die in prekären Verhältnissen leben, können dieser Umgebung nur schwer entfliehen, denn der oftmals einzige Fluchtweg – die Arbeit – ist versperrt. Andere Menschen wiederum – oft in führenden Positionen – haben noch mehr zu tun als früher. Sie müssen sich neben dem Alltäglichen auch um die Aufrechterhaltung des Geschäftes, um sinkende Umsätze, um die Beantragung von Corona-Hilfen und um das Wohlergehen der Mitarbeiter in dieser schwierigen Phase kümmern. Das alles belastet mehr als zuvor.
Welche Berufe sind besonders betroffen?
Kräutter: Vor allem soziale Berufe. Die Angehörigen dieser Berufsgruppe müssen einen ständigen Spagat zwischen ihren eigenen Problemen und denen der Menschen, denen sie ja helfen wollen, aushalten. Betroffen sind beispielsweise Sozialarbeiter, Lehrkräfte und Mitarbeiter von Behörden. Diese haben oft auch noch das Thema „Digitalisierung“zu überwinden und gehen deshalb leistungsmäßig an ihre Grenzen. Ihr
Umfeld hat sich im letzten Jahr radikal verändert.
Und was ist mit dem Pflegepersonal in den Kliniken?
Kräutter: Sie sind sogar ganz stark belastet, weil sie einerseits selbst den Gefahren einer Infektion ausgesetzt sind, auf der anderen Seite aber ihren Patienten beistehen wollen. Alles zusammengenommen sind das ganz schön viele Faktoren, die psychische Belastungen hervorrufen oder verstärken können.
Wie können Ihre Ärzte und Therapeuten diesen Personen helfen?
Kräutter: Wir sind Expertinnen und Experten für psychosomatische Krankheiten und helfen unseren Patienten mit innovativen und anerkannt wirksamen Therapien. Wir gehen individuell auf jeden Menschen und dessen Lebensgeschichte ein. Dabei beziehen wir auch Angehörige mit ein. Und wir sind auf dem neuesten Stand der Wissenschaft. Müller: Neben den Standardtherapien bieten wir Patienten auch neue Möglichkeiten – wie zum Beispiel Schematherapie, EMDR-Therapie („Eye Movement Desensitization and Reprocessing“= Desensibilisierung und Verarbeitung durch Augenbewegung) sowie die tiergestützte Therapie – an. Darüber hinaus befinden wir uns laufend in der Weiterentwicklung und Ausweitung unseres ganzheitlichen Angebots um erfahrungsorientierte Therapieangebote wie etwa Bogenschießen, Körpertherapien oder meditative Entspannung.
Wann empfiehlt sich eine stationäre Aufnahme in Ihren Kliniken?
Müller: Eine stationäre Therapie – und wir können aktuell kurzfristig aufnehmen – ist immer dann notwendig, wenn ambulante Behandlungsmöglichkeiten nicht mehr ausreichen. Wenn es mehr braucht, um den Zugang zur eigenen Kraft und Lebensfreude wieder zu aktivieren.
Behandeln Sie seit Beginn der Pandemie mehr Menschen stationär als zuvor?
Kräutter: Wir hatten und haben immer wieder stärkere Einbrüche bei der Belegung unserer Kliniken – das geht auch anderen Kliniken wohl so. Während der ersten Welle der Pandemie mussten teilweise Betten freigehalten werden. Und jetzt ist es so, dass immer wieder Menschen, die dringend stationär behandelt werden müssten, die Aufnahme in eine Klinik scheuen. Einerseits haben sie Angst davor, keinen Besuch von Angehörigen empfangen zu können, andererseits auch davor, dass sie sich in einer Klinik mit Corona infizieren könnten.
Müller: Aber beide Sorgen können wir unseren Patienten nehmen: Wir sind bestens auf diese Situation vorbereitet, haben ein ausgeklügeltes Abstands- und Hygienekonzept erarbeitet und mit Hilfe der auch in anderen Einrichtungen etablierten Teststrategie ist in unseren Häusern Besuch möglich.