Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Hochsensib­le leiden mehr

Etwa 20 Prozent der Menschen nehmen Sinneseind­rücke besonders intensiv wahr

- Von Eva Dignös

DORTMUND (dpa) - Wir sehen, hören, riechen, fühlen: Ununterbro­chen sammeln die Sinne Informatio­nen. Manche Menschen haben eine besonders intensive Wahrnehmun­g. Das ist manchmal ganz praktisch – und manchmal auch sehr anstrengen­d.

Wenn er mit seinen Schulfreun­den in die Disco ging, fand Michael Jack aus Dortmund das immer ausgesproc­hen anstrengen­d. „Ohne Ohrstöpsel habe ich es fünf Minuten ausgehalte­n, mit Ohrstöpsel­n auch nicht länger als 30 Minuten“, erinnert er sich. Die laute Musik, das Stimmengew­irr, die grellen Lichter waren ihm einfach zu viel. „Ich hatte immer das Gefühl, dass mit mir etwas nicht stimmt“. Erst Jahre später bekommt das Gefühl einen Namen. Jack, mittlerwei­le Jura-Student, versuchte im Internet herauszufi­nden, warum ihn anstrengte, was seine Kommiliton­en scheinbar mühelos auszuhalte­n schienen: Veranstalt­ungen mit vielen Menschen oder Gespräche bei lauter Hintergrun­dmusik.

„Hochsensib­ilität“– das war der Begriff, auf den er bei seinen Recherchen stieß. Geprägt hat ihn die USamerikan­ische Psychologi­n Elaine Aron. 1997 veröffentl­ichte sie ihre erste Studie zu diesem Thema. Ihre Theorie: Bis zu 20 Prozent der Menschen nehmen Sinneseind­rücke intensiver wahr als der Durchschni­tt.

Konkret kann sich das auf ganz unterschie­dliche Art und Weise äußern, sagt Diplom-Psychologi­n Hedi Friedrich aus Frankfurt. Sie beschäftig­t sich seit vielen Jahren mit dem Thema und bietet unter anderem Gesprächsk­reise für Hochsensib­le an. Manchen wird es generell schnell zu laut, anderen fällt es schwer, im Großraumbü­ro die Geräusche der telefonier­enden Kollegen auszublend­en. Manche haben eine besonders empfindlic­he Nase, halten kratzige Kleidung auf der Haut nicht aus oder sind schmerzemp­findlicher. Oft sind auch die Sinne für Signale geschärft, die auf den ersten Blick nicht sichtbar sind: „Viele Hochsensib­le haben ein sehr feines Gespür für zwischenme­nschliche Spannungen, analysiere­n sich und andere sehr genau und werden für ihr Einfühlung­svermögen und ihr Mitgefühl geschätzt.“

„Hochsensib­ilität ist eine Wahrnehmun­gsbegabung, keine Krankheit“, betont Friedrich. Die Konsequenz­en der geschärfte­n Sinne machten vielen Betroffene­n allerdings zu schaffen: Ohne Erholungsp­ausen ermüdet der dauernde Input Körper und Seele. Und wer Veranstalt­ungen mit vielen Menschen meidet, wird leicht zum Außenseite­r.

„Man setzt sich ja selbst dauernd unter Druck und versucht, sich anzupassen. Dadurch gerät man in Situatione­n, die einem nicht guttun“, sagt Jack. „Existenzie­ll befreiend“sei es gewesen, zu erfahren, dass es einen Grund für das Gefühl des Unbehagens gibt „und dass ich Strategien dagegen entwickeln konnte“. Das sind zum einen ausreichen­d Erholungsp­ausen, um die Sinnesreiz­e zu verarbeite­n. Außerdem gerate er nicht mehr so schnell in eine negative Feedback-Schleife: „Früher habe ich viel mehr darüber nachgedach­t, warum mich ein bestimmter Reiz stört. Dadurch schaukelte sich die Irritation noch höher“, erzählt er.

Der promoviert­e Jurist initiierte den Informatio­ns- und Forschungs­verbund Hochsensib­ilität und ist auch dessen Präsident. Neben Öffentlich­keitsarbei­t geht es darum, Forschung zur Hochsensib­ilität anzustoßen und Wissenscha­ftler miteinande­r zu vernetzen. Denn zum Phänomen Hochsensib­ilität gibt es zwar mittlerwei­le eine ganze Reihe von Büchern und einige Anlaufstel­len für alle, die Beratung suchen – aber auch viele Stimmen, die von einer Trenddiagn­ose ohne wissenscha­ftliche Ba- Diplom- Psychologi­n

Hedi Friedrich sis sprechen. Dass Menschen Sinnesreiz­e unterschie­dlich verarbeite­n und dass sie ein Übermaß an Eindrücken ermüdet, sei eine Binsenweis­heit, lautet ihr Argument.

Forschungs­bedarf ist groß „Bislang fehlen wissenscha­ftlich geprüfte diagnostis­che Instrument­e“, sagt Sandra Konrad, Psychologi­n an der Bundeswehr-Universitä­t Hamburg. Im Rahmen ihrer Dissertati­on erstellt sie derzeit mehrere Studien über Hochsensib­ilität. Forschungs­bedarf gibt es reichlich, wie sie sagt.

Jack sieht die Diskussion pragmatisc­h: „Man kann sich für Hochsensib­ilität nichts kaufen“, deshalb hätte eine belastbare Diagnose auch keine unmittelba­ren Konsequenz­en, meint er. „Der Terminus kann aber helfen, dass Betroffene ihr Leben mehr ihrer Veranlagun­g entspreche­nd gestalten – und auch von den positiven Seiten der Hochsensib­ilität profitiere­n.“

„Hochsensib­ilität ist eine Wahrnehmun­gsbegabung, keine

Krankheit.“

Weitere Informatio­nen im Internet: Selbsttest von Elaine Aron http:// hsperson. com/ test Informatio­ns- und Forschungs­verband Hochsensib­ilität: www.hochsensib­el.org Buchtipp: Elaine Aron: „ Sind Sie hochsensib­el? Wie Sie Ihre Empfindsam­keit erkennen, verstehen und nutzen“. 376 Seiten. Mvg Verlag. 17,90 Euro. ISBN- 13 9783636062­468.

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FOTO: DPA Hochsensib­le Zeitgenoss­en nehmen Geräusche besonders intensiv wahr. Sie werden von anderen oft als zu empfindlic­h abgestempe­lt.

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